Pierre Lemaitre: "Drei Tage und ein Leben"
Mit der Schuld leben
Pierre Lemaitre, 1951 in
Paris geboren, im deutschsprachigen Raum erst aufgrund seines mit
dem "Prix Goncourt" ausgezeichneten Romans "Wir sehen uns dort oben"
bekannt geworden, hat mit "Drei Tage und ein Leben" einen Roman
vorgelegt, der zutiefst verstörend ist. Und wirklich gut.
Der Roman beginnt im Jahr 1999. Antoine ist zwölf Jahre alt und lebt in
der Kleinstadt Beauval. Er ist ein typischer Halbwüchsiger, mehr oder
weniger verliebt, der sich im Rudel der Möchtegernalphamännchen
behaupten möchte. Er genießt seine Zeit im Freien und lebt für sein Baumhaus,
das er selbst gebaut und montiert hat. Sein Vater hat die Familie vor
Jahren verlassen und taucht nur wegen Unterhaltszahlungen an die Mutter
und der üblichen Geschenke zu Weihnachten und zum Geburtstag auf. Immer
sind es natürlich die falschen. Der einzige Besuch Antoines in
Deutschland, wo der Vater nun lebt, endet mit der Erkenntnis, dass man
einander persönlich nicht viel zu sagen hat und zukünftige Besuche
unterlassen wird.
Als einer der Schulkollegen eine "Playstation" erhält, spaltet
sich die Gruppe. Da Antoine verboten wird, zu den "Playstation"-Nachmittagen
zu gehen, baut er sein Baumhaus. Sein bester Freund wird Odysseus, der
Hund des Nachbarn, der beim Besitzer nur wenig Zuneigung erfährt. Auch
der sechsjährige Rémi, Sohn der Desmedts, bewundert Antoine, der für ihn
wie ein großer Bruder wird. Als der Hund eines Tages von einem durch die
Stadt rasenden Auto erfasst und schwer verletzt wird, greift sich
Monsieur Desmedt ohne zu zögern seine Waffe und erschießt den Hund.
"Für Antoine, der im Mittelpunkt des Dramas stand, begann alles mit
dem Tod des Hundes. Odysseus. Versuchen Sie nicht herauszufinden,
weshalb sein Besitzer, Monsieur Desmedt, dem spindeldürren,
fahlgelb-weißen Mischling mit den langen Beinen den Namen eines
griechischen Helden gegeben hatte, das wird nur eines der Rätsel in
dieser Geschichte sein."
In seiner Agonie über den Tod des Hundes zerstört Antoine sein Baumhaus,
und als Rémi am nächsten Tag bei Antoine auftaucht, lässt er seine Wut
über die durch den Vater begangene Tötung am kleinen Rémi aus, indem er
mit einem Ast auf den kleinen Jungen einschlägt. Rémi erliegt noch an
Ort und Stelle seinen Verletzungen. Antoine ist schockiert über den Tod
des Kleinen und trifft nun die nächste Entscheidung, die sein Leben für
immer verändern wird.
"Schmerzerfüllt erhebt er sich. Rémi hat Schürfwunden am Arm und
Bein, Antoine stellt sich unwillkürlich vor, dass ihm das trotz allem
weh tut, verrückt, irgendwie will ihm nicht in den Kopf, dass Rémi tot
ist, nein, es gelingt ihm nicht, das zuzugeben. Das ist keine Leiche,
sondern das Kind, das er kennt, das er jetzt wieder auf den Rücken
nimmt und durch den Wald von Saint-Eustache transportiert, das Kind,
das er mit Odysseus auf die Plattform hochgezogen und das dabei
waouhhhh! gerufen hat. Er war begeistert von dem Ding."
Angsterfüllt versteckt er den Leichnam in einem Loch in einem Baumstumpf
und rennt nach Hause. Dabei verliert er seine teure und auffällige
Armbanduhr.
Pierre Lemaitre gelingt das Kunststück, seinen Protagonisten überzeugend
zwischen Schuldgefühlen und purer Angst, als Mörder entlarvt zu werden,
ins Leben zu werfen. Da er der Letzte war, der den kleinen Jungen
gesehen hat, wird er von Polizei und Eltern verhört und befragt. Bei
jedem Klingeln packt ihn die Angst und lässt ihn sogar krank werden. Von
seiner Mutter gezwungen, nimmt er auch an den Suchaktionen teil. Rémi
erscheint ihm und wird nur durch die Angst, aufzufliegen, verdrängt.
Antoine plant sogar, davonzulaufen, und, als sich die Suchtrupps dem
Versteck nähern, nimmt er alle Schlaftabletten der Mutter ein, die
allerdings nicht reichen, um zu sterben.
Die Spannung im Dorf steigt, unterschiedliche Menschen werden
verdächtigt, schnell machen Gerüchte die Runde. Männer werden verhaftet
und wieder freigelassen, was ihnen allerdings nicht mehr hilft. Einmal
suspekt, bleibt man suspekt. Und dann wird Beauval am dritten Tag nach
dem Verschwinden des kleinen Rémi von einem schlimmen Sturm heimgesucht.
"Stumm vor Entsetzen betrachteten die Einwohner Beauvals die
Schäden, die jener Sturm verursacht hatte, den deutsche Meteorologen
'Lothar' tauften. Aber sie mussten rasch wieder zurück in ihre Häuser.
Der Regen, der vorübergehend dem Sturm gewichen war, pochte nun auf
seinen Anteil an der Katastrophe."
Dieser fast biblische Regen überschwemmt das Dorf und spült ganze
Landstriche weg, unter Anderem auch den Wald. So bleibt Rémis
Verschwinden ein ungelöstes Rätsel.
Nach dem ersten Teil dieses von Tobias Scheffel ausgezeichnet
übersetzten Romans steigt man anno 2011 wieder ein. Antoine ist Arzt und
besucht Beauval nur, wenn er nach seiner Mutter sehen muss. Sein Leben
ist nach außen hin geordnet. Innerlich hat er seine Tat nie überwunden.
Über Umwege und die Leidenschaft führt Lemaitre seinen Protagonisten in
eine Situation, die ihn letztendlich dazu zwingen wird, sich entweder
für ein freies Leben in permanenter Angst vor Entdeckung oder ein
sicheres, aber ungewolltes Leben zu entscheiden.
Es ist faszinierend, wie Pierre Lemaitre seinen Figuren Leben einhaucht,
wie man ins Geschehen und ins Innenleben der Protagonisten hineingezogen
wird. Wie man selbst dazu gezwungen wird, sich der Frage nach Schuld
und Sühne zu stellen. Doch haben wir es hier nicht mit einem
französischen Raskolnikow zu tun, der sich, zerbrochen an seiner Schuld,
letztendlich stellt. Zu sehr liebt Antoine das Leben, zu wenig treiben
ihn die Geister Rémis, zu sehr ist er damit beschäftigt, nicht erwischt
zu werden.
"Drei Tage und ein Leben" ist somit ein Roman, der definitiv nicht mit
einem Sieg der Moral endet, oder zumindest nur bedingt, denn ob das, was
Rémi letztendlich trifft, die psychischen Qualen wert ist, die Antoine
sein Leben lang quälen und weiterhin quälen werden, sei dahingestellt.
Dass man mit Antoine mitfiebert, auch wenn man immer stärker von seiner
Feigheit, seiner Rückgratlosigkeit angewidert ist, ist einzig der
Verdienst Lemaitres, der mit diesem Roman ein kongeniales Stück
psychologisch tiefsinniger Literatur geschaffen hat.
Ein Roman, der noch lange nach der Lektüre nachschwingt.
(Roland Freisitzer; 09/2017)
Pierre Lemaitre: "Drei Tage und ein Leben"
(Originaltitel "Trois jours et une vie")
Aus dem
Französischen von Tobias Scheffel.
Klett-Cotta, 2017. 272 Seiten.
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