Daniel Kehlmann: "Tyll"


Gelungener Schelmenroman

Der noch immer junge Daniel Kehlmann hat bereits in der Vergangenheit eine gute Hand für historische Stoffe bewiesen, in seinem neuesten Roman "Tyll" gelingt ihm dazu auch noch das Bravourstück, einen wirklich faszinierenden Schelmenroman zu schreiben, der sich nur am Rande mit den Flunkereien des dem Roman den Namen gebenden Gauklers beschäftigt. Historisch betrachtet, stimmt hier einiges nicht, denn dieser Roman spielt nicht im 15. Jahrhundert, in dem die historische Figur laut der anno 1510 erstmals publizierten Schwanksammlung "Ein kurtzweilig lesen von Dil Ulenspiegel, geboren uß dem land zu Brunßwick, wie er sein leben volbracht hat" gelebt haben soll, sondern während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648). Allerdings ist das in diesem Fall relativ unwichtig, weil Daniel Kehlmann sowieso eine Art Hybridzeit, die rein literarisch ist und somit ein Kehlmannjahrhundert wird, kreiert. Auch sprachlich findet er eine geschickte Lösung, die dem heutigen Leser ein aktuelles aber doch historisch anmutendes Leseerlebnis bietet.

Wie bereits in früheren Romanen, erzählt Daniel Kehlmann in verschiedenen, in diesem Fall acht, Abschnitten, die allerdings doch durch ein gemeinsames Thema und wiederkehrende Protagonisten verbunden sind. Daher gelingt auch eine viel kohärentere Verschmelzung im Roman als zum Beispiel in "Ruhm", wo zwischen den verschiedenen Episoden fast gar keine konkreten Berührungspunkte existieren.

Im eröffnenden Abschnitt wird aus der Perspektive eines Mädchens erzählt, das in einem Dorf wohnt, das von Tyll und seinem Gefolge heimgesucht wird. Tyll unterhält die Dorfbewohner, zeigt aber bald verächtlich ihre Dummheit auf, indem er sie mit einfachen Tricks gegeneinander ausspielt. Sie prügeln einander teilweise sogar in die Invalidität, und Tyll ist wieder weg, bevor sie es bemerkt haben. Danach will sich niemand an diesen Tag erinnern. Sehr gelungen, wie Kehlmann hier immer wieder versteckte Anspielungen auf die heutige Zeit einfließen lässt.

Danach wechselt Kehlmann zurück in die Adoleszenz des jungen Tyll und zeigt, wie der wissbegierige und schelmische Sohn eines Müllers zu Tyll wird. Spannende Szenen wechseln sich hier ab, bevor zwei Männer auftauchen, die Tylls Vater, der verbotene Bücher besitzt, aber nicht lesen kann, weil er das Lateinische nicht beherrscht, wegen Hexerei mittels eines Gerichtsverfahrens zum Tod am Strang verurteilen. Ein durch Folter erpresstes Geständnis führt zum Tod von Tylls Vater. Irr- und Aberglaube entpuppen sich hier als das, was sie in Wahrheit sind, nämlich absoluter Schwachsinn. Indem er Tyll noch vor der Vollstreckung des Todesurteils fliehen lässt, legt Kehlmann den Grundstein für die weitere Handlung dieses famos konstruierten Romans.
Tyll wird Lehrling eines grässlichen Minnesängers und verlässt auch diesen bald. So wird er zum Spötter und Schelm, den wir aus der Überlieferung kennen.

Interessant ist jedenfalls auch, dass Kehlmann quasi gegen die Chronologie erzählt, indem er sich von den Auswirkungen des Krieges abstößt, bis er beim Winterkönig und seiner englischen Gattin, Friedrich V. und Elizabeth Stuart, landet. Während die Zeit unablässig vorantreibt, verläuft das Kriegerische, die Ursache des Übels, in entgegengesetzter Richtung.

Das ist ein wichtiger Bestandteil dieses Romans, der ein wahres Virtuosenstück ist. Nicht nur, dass Daniel Kehlmann bei der Beschreibung von Tylls Seilakten und Spielereien höchstwahrscheinlich eine ordentliche Portion Spaß gehabt hat, er spielt auch Glaube gegen Aberglaube, Magie gegen Vernunft und Sinn gegen Stumpfsinn aus. So wie Tyll die Menschen in seinem Umfeld gegeneinander ausspielt.

Viele Zeitzeugen, historische Figuren, kommen hier vor, allerdings unterschiedlich realistisch oder gar historisch belegt. Der Autor lässt Tyll sogar von Neulengbach über Melk bis Herrsching wandern und schiebt bewusst Ungenauigkeiten und Verfremdungen ein, die es dem historisch informierten Leser nicht leicht machen, zwischen reiner Fiktion und zeitversetzter Halbwahrheit zu unterscheiden.

Obschon auch das in Wahrheit nur Mittel zum Zweck ist, denn mit "Tyll" hat der Leser definitiv keinen historischen Roman vor sich, auch keinen investigativen und auf Fakten beruhenden Roman, sondern einfach einen mehrschichtigen Schelmen- und Kriegsroman. Es ist eine Geschichte, die sich einer legendenhaften Figur frei bedient, um den Leser durch zutiefst traurige, schreckliche Geschichten zu führen, in denen dem Leser auch noch die wenigen Lacher im Hals stecken bleiben. In Wahrheit ist es nämlich der Dreißigjährige Krieg, der in diesen verschiedenen Traum- und Realitätsebenen, die aus unterschiedlichen und nicht immer zuordenbaren Erzählperspektiven geschildert werden, im Mittelpunkt steht.

Kehlmanns Prosa ist in "Tyll" leicht lesbar und mutet etwas altertümlich an, ohne dabei, wie zum Beispiel Feridun Zaimoglu in seinem herausragenden "Evangelio" eine nur für diesen Roman geschaffene Sprache zu kreieren. Das liest sich ausgezeichnet und ist trotz aller Gräueltaten unterhaltend und in jedem Fall äußerst spannend.

(Roland Freisitzer; 11/2017)


Daniel Kehlmann: "Tyll"
Rowohlt, 2017. 474 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen