Hans Henny Jahnn: "Die Nacht aus Blei"


Jugendliche Selbstbespiegelungen: Der Traum eines Ausgestoßenen

"Gemessen an seiner Größe, hat Hamburg nicht viele Schriftsteller von Rang hervorgebracht. Die Liste beginnt mit Brockes und Hagedorn, sie reicht bis Fichte, Rühmkorf und Siegfried Lenz. Dazwischen finden wir Klopstock und Claudius, Liliencron und Dehmel, Borchert, Nossack und Arno Schmidt - wenn ich wichtige Autoren nicht übersehen habe. Der seltsamste aber unter allen war Hans Henny Jahnn, geboren 1894 in Stellingen, gestorben 1959 in Blankenese. Bis heute gilt er als schwierig. Das war er, und er wollte es auch sein. Er hat es sich und seinen Lesern nie leicht gemacht," schrieb Ulrich Greiner in einem sehr persönlich gefärbten Artikel unter dem Titel "Der Uferlose" in der "Zeit" vom 19. Jänner 2015, und "Es gehört zum Leseerlebnis Jahnn, dass es auf ähnliche Weise nicht mitteilbar ist, wie man es von jenen Träumen kennt, die eben noch klar im Bewusstsein standen und jetzt schon erloschen sind."

Wie Uwe Schweikert in seiner interessanten viereinhalbseitigen "Editorischen Nachbemerkung" des gegenständlich besprochenen Buchs ausführt, handelt es sich um einen in der Zeit zwischen Herbst 1952 und Jänner 1954 entstandenen, gesondert veröffentlichten Text aus dem Fragment gebliebenen "homosexuellen Liebesroman" mit dem Titel "Jeden ereilt es".

"Die Nacht aus Blei", der letzte und kürzeste Prosatext Hans Henny Jahnns, eignet sich angesichts der monumentalen weiteren Publikationen des Autors gut als Einstieg in die Gedanken- und Wortwelt des am 17. Dezember 1894 in Stellingen bei Hamburg geborenen Multitalents (Schriftsteller, Landwirt, Orgelbauer, Musikherausgeber, Hormonforscher, Sektengründer, Atomkraftgegner, ...) Jahnn, der sich im Alter von 18 Jahren das fünffache "N" in seinem Namen verordnete.
Doch ist dieser (trotz des fünffachen "N"!) nach wie vor nur wenigen Literaturinteressierten geläufig, daher sei an dieser Stelle auf das im Mai 2017 bei "Hoffmann und Campe" neu aufgelegte (aus einer Dissertation entstandene, daher nüchterne und vor allem werkzentrierte) Sachbuch "Der gestrandete Wal. Das maßlose Leben des Hans Henny Jahnn" verwiesen, denn Jahnns Dasein verlief in wechselhaften Zeiten durchaus ereignisreich, und an schillernden Persönlichkeiten bzw. skandalumwitterten Außenseitern bestand und besteht nun einmal ungebrochenes Interesse.
Der eingangs bereits zitierte (auch!) Jahnn-Experte Ulrich Greiner schrieb in seiner am 3. April 2003 in der "Zeit" erschienenen Rezension: "Wir haben es also nicht mit einer simplen Jahnn-Biografie zu tun, sondern mit einer sehr lesbaren und intelligenten Deutung jener biografischen und literarischen Energien, die zu diesem sperrigen, außerordentlichen Werk geführt haben."

Anno 1989 stiftete der Schriftsteller Botho Strauß, damals frisch gekürter "Büchner-Preis"-Träger, die gewonnenen 60.000 Mark für einen Lektüre- und Schreibwettbewerb. Die Teilnehmer sollten Jahnns Mammutwerk lesen und darüber schreiben; der Aufruf lautete: "Lesen Sie die 2000 Seiten der Romantrilogie 'Fluß ohne Ufer' von Hans Henny Jahnn, und schildern Sie in einem kurzen Essay Ihre wichtigsten Eindrücke." Das Ergebnis war die im Jahr 1993 erschienene Publikation "Jahnn lesen: Fluss ohne Ufer. Ein Lektürebuch" mit den prämierten Texten. Jedoch vermochte auch diese Aktion nichts an der flächendeckenden Ignoranz der Zeitgenossen zu ändern.
Ein weiteres kurioses Detail aus der Rezeptionsgeschichte: Gudrun Ensslin begann einst mit einer nie vollendeten Doktorarbeit über den am 29. November 1959 an den Folgen eines Herzinfarkts gestorbenen Hans Henny Jahnn, der auf dem Friedhof in Hamburg-Nienstedten neben seinem Geliebten Gottlieb Harms liegt.
Im Jahr 1970 wurde Jahnns Frau Ellinor in der Begräbnisstätte beigesetzt.

"'Es ist zu spät, noch umzukehren. Alle Türen sind ins Schloß gefallen. Alle Straßen sind verschüttet. Sie haben erkannt, wer ich bin. Sie wissen, daß Sie sich selbst begegnet sind. Die Lüge ist keine Zuflucht mehr. Sie sind mitten im Geständnis. Man hat Ihnen ein Messer langsam in den Bauch getrieben. Eine krause rote Narbe ist Ihnen davon erhalten. -'
Matthieu begann zu schreien."
(S. 77)

In einer nicht endenwollenden Nacht irrt der dreiundzwanzigjährige Matthieu, von einem vorerst Namenlosen dort ausgesetzt, durch die finsteren Straßen einer ihm unbekannten Stadt, ohne Erinnerungen, ohne Geld. Im gediegenen Etablissement einer jungen verführerischen Dame namens Elvira und ihres mindestens ebenso reizvollen Bediensteten ("Franz"/"Eselchen") erlebt er sowohl Angenehmes als auch Entsetzliches, man scheint ihn überdies zu kennen und erwartet zu haben, alles dünkt ihn seltsam, absolut augenblicksbezogen und voller Rätsel. Die unverständlichen Andeutungen und die befremdlichen Gespräche vergrößern Matthieus Unbehagen. Dass die Bewohner der Stadt allesamt Körper aus reiner Finsternis besitzen, die sie nur mittels Schminke sichtbar machen, offenbart sich erst nach einiger Zeit, als das erotische Begehren verebbt ist ...
Später trifft Matthieu auf einen jungen Mann, der hungert und sich als sehr anhänglich erweist. Die Kellnerin in einer nach langer Wanderung durch Kälte und Dunkelheit ausfindig gemachten Gaststätte, wo es nur noch ein allerletztes Glas Wasser, sonst nichts, gibt, offenbart weitere höchst sonderbare Eigenheiten der Einwohner und der Stadt, auf der die endlose Nacht lastet.
Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem jungen Mann, den Matthieu auf dessen Vorschlag einfach "Anders" (!) nennt, um sein tödlich verwundetes fünfzehnjähriges Ich. Schließlich findet sich im Schneetreiben der eisigen Nacht kein anderer Unterschlupf als jener Keller, in dem "Anders" wohnt. Und dort, im nach dem Verlöschen der Kerze völlig dunklen Raum tief unter der Erde, gewinnen nach schicksalsschwangeren, mitunter altklugen Wortwechseln, die man als ansatzweise Selbstanalyse eines sehr jungen Mannes betrachten kann, die Symbolik einer klaffenden Wunde, Liebe, Verzweiflung, Sehnsucht und Tod die Oberhand ...

Bleischwer, unheilvoll, dunkel glänzend, trotz der Kürze stellenweise langatmig infolge des Beharrens auf der Abbildung einer Vielzahl an Eindrücken und voller jugendlich-todessehnsüchtiger Schwärmerei, so bietet sich Jahnns bildgewaltige Erzählung dem Leser dar. Interessant ist, dass Jahnn bei aller Detailverliebtheit das Fehlen z.B. des Geschmacks besonders betont; ein Indiz dafür, dass es sich um Schilderungen eines Traumgeschehens handelt.

Das vom 1953 geborenen Kärntner Schriftsteller Josef Winkler beigesteuerte achtzehnseitige Nachwort präsentiert sich als Essay und Selbstdarstellung, fügt sich jedoch immerhin nach einer seltsamen Anlaufphase ebenso tapfer wie wertschätzend in den Gesamtkontext ein, wenngleich Winklers Stil im übertragenen Sinn nur zaghaft anklopft, wo der sprachlüsterne Jahnn zweifellos mit der Tür ins Haus gefallen wäre.

(kre; 06/2017)


Hans Henny Jahnn: "Die Nacht aus Blei"
Mit einem Nachwort von Josef Winkler.
Bibliothek Suhrkamp, 1999. 124 Seiten.
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Hörbuch-CDs:
Hoffmann und Campe, 2006.
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Weitere Buchtipps:

Hans Henny Jahnn: "Fluß ohne Ufer"

Hans Henny Jahnns Hauptwerk ist die große Romantrilogie "Fluss ohne Ufer", die er unter dem Einfluss von Franz Kafka, Marcel Proust und James Joyce schrieb und in der er eindringlich die Obsessionen und Existenzkrisen des modernen Menschen darstellt. "Wie wenn es aus dem Nebel gekommen wäre, so wurde das schöne Schiff plötzlich sichtbar." - so beginnt die mehr als 2000 Seiten lange Romantrilogie "Fluss ohne Ufer". Auf dem Schiff befinden sich eine geheime, womöglich todbringende Fracht, und ein blinder Passagier: Gustav Horn. Seine Verlobte, die Tochter des Kapitäns, wird die Reise nicht überleben. Dann sinkt das Schiff. Doch für Horn ist die Reise noch lange nicht vorbei, sie wird ihn quer über Kontinente führen und hinab in menschliche Abgründe. Ein kolossaler Roman, der eine Erkundung der Welt, der Natur, des Daseins und der Sprache ist. (Hoffmann und Campe)
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Hans Henny Jahnn: "Perrudja"
Hans Henny Jahnns "Perrudja" ist ein Roman vom literarischen Rang eines "Ulysses" oder "Berlin Alexanderplatz". Eine eindringliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit des Lebens. Der expressionistische Roman, den Hans Henny Jahnn bereits während des Ersten Weltkriegs im norwegischen Exil konzipierte, handelt von der Lebensgeschichte und den Visionen des Mannes Perrudja, der - einsam aufgewachsen in den Bergen - plötzlich in einem geheimnisvollen Fremden einen Gönner findet. Ihm erzählt er von seiner Vergangenheit, seiner Liebe zu der stolzen Signe - einer Vergangenheit, dessen Bruchstücke er zurückzuerobern versucht. Doch seine Verstrickungen darin bringen ihn dazu, sich einem größeren Plan zu widmen: einem gewaltigen Entwurf zur Menschheitserneuerung, der die Welt zum Besseren wenden und den Menschen Frieden bringen soll. Aber Perrudja muss erfahren, dass die Eigenlogik der Macht stärker ist als der gute Wille des Einzelnen. "Perrudja" erzählt eindringlich von den Dämonen, denen der Mensch unterworfen ist, von Verstrickungen und Untergang, aber auch von Erlösung. (Hoffmann und Campe)
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Hans Henny Jahnn: "Liebe ist Quatsch. Briefe an Ellinor"
Herausgegeben von Jan Bürger und Sandra Hiemer.
"Du bist einer meiner großen Schätze." Hans Henny Jahnn gehört zu den wichtigsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts und sicher auch zu den eigensinnigsten. Im Jahr 1926 heiratet er Ellinor Philips; eine Verbindung, die von tiefer Zuneigung getragen ist. Zeitweise treten andere Geliebte hinzu, doch die Nähe zueinander wird eine der wenigen Konstanten im turbulenten Leben der beiden. Durch die bislang unbekannten Briefe aus dem Nachlass kann diese ungewöhnliche Ehe erstmals in all ihren Facetten nachvollzogen werden. Für dieses Paar scheint fast alles möglich: symbiotische Nähe genauso wie extreme Distanz und Beziehungen zu Dritten, tabulose Freizügigkeit genauso wie Treue und Fürsorge. In den vielen Jahren bis zu Jahnns Tod im November 1959 verkommt die Beziehung mit ihren Höhen und Tiefen niemals zum Zweckbündnis: Ellinor und Hans Henny Jahnn bleiben einander ungeheuer wichtig, in den wilden und krisengeschüttelten Spätzeit der Weimarer Republik, auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus, in der dänischen Emigration, den Wirren des Zweiten Weltkriegs und auch nach der gemeinsamen Rückkehr in die nordddeutsche Heimat. (Hoffmann und Campe)
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Jan Bürger: "Der gestrandete Wal. Das maßlose Leben des Hans Henny Jahnn. Die Jahre 1894 bis 1935"
Hans Henny Jahnn war Orgelexperte, Landwirt, Pazifist, Musikverleger und - vor allem - Schriftsteller. Er hat provoziert, obwohl er es nie darauf anlegte. Sein künstlerischer Eigensinn wurde als skandalös empfunden, seine Besessenheit rückte ihn in die Rolle des Außenseiters. Von Schriftstellern, Musikern und Künstlern als genialer Erneuerer des modernen Romans verehrt, konnte er nie ein breites Publikum erreichen. In Vergessenheit geriet er dennoch nicht.
Jan Bürger verknüpft Jahnns Lebenswerk mit den Tendenzen seiner Zeit: Wie reagierte ein so origineller und auf Wirkung bedachter Künstler auf die Erschütterungen durch Kriege, politische Katastrophen und wissenschaftliche Revolutionen? Im Ersten Weltkrieg floh er zusammen mit Gottlieb Harms, seinem engsten Freund und Lebensgefährten, aus Hamburg nach Norwegen. Nach der Rückkehr gründete er 1919 in der Lüneburger Heide die Glaubensgemeinschaft "Ugrino" und gewann 1920 mit dem Drama "Pastor Ephraim Magnus" den "Kleist-Preis". 1926 heiratete er Ellinor Philips. Mit Alfred Döblin, Bertolt Brecht, Gustaf Gründgens und vielen Anderen stand er in enger Verbindung. Jan Bürger legt mit erzählerischer Verve und philologischer Präzision die Kraftzentren dieses exzentrischen Lebens frei. (Hoffmann und Campe)
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