Abo Iaschaghaschwili: "Royal Mary"
Ein Mord in Tiflis
Im
hurtigen Galopp von den Anfängen der Kriminalliteratur bis zu
einem verschwundenen Rennpferd
Wer weiß noch, welcher Ausdruck vor dem Begriff "Krimi"
üblich war - und im Englischen noch immer üblich ist?
"Detektivgeschichte" beziehungsweise
"detective fiction" - eine Erzählung, in der ein
vifer Mensch, nicht unbedingt ein Polizeibeamter oder sonstiger
Angehöriger eines obrigkeitsgelenkten Wachkörpers,
seine überragende Beobachtungsgabe einsetzt, um durch
intelligente Gedankenschlüsse Todesfälle
aufzuklären. Als erster und den Begriff Detektiv
prägender Protagonist gilt Auguste Dupin aus Edgar
Allan
Poes "The Murders in the Rue Morgue" (1841).
Dieser Dupin, Privatier wie Monsieur Albre im gegenständlich
besprochenen Tiflis-Krimi, wird gleich eingangs zitiert, ebenso wie die
Detektivromane des heute fast vergessenen Eugène Sue, der in
den 1840er-Jahren einer der meistgelesenen Autoren war, und sein
Zeitgenosse Gustav Weil, Orientalist und Übersetzer von
"Tausendundeine
Nacht".
Und heutige Kriminalromane? Die erfolgreichsten brillieren damit, rund
um einen mehr oder weniger milieu- oder ortstypischen Mordfall das
Leben in
Venedig, den Leberkäs- und Bierkult in einem
niederbairischen Marktflecken oder die Mittlebenskrise eines
Polizeikommissars im
südschwedischen
Ystad darzustellen.
Das dünne, aber inhaltsvolle Büchlein von Abo
Iaschaghaschwili umklammert Anfänge und vorläufiges
Ende der bald einhundertachtzigjährigen Krimigeschichte: Wie
zufällig reist der Franzose Albre von einem Leichenfundort zum
Schauplatz der nächsten Verbrechen und führt
Gespräche mit Angehörigen von mehr als einem halben
Dutzend Völkern. Im Tiflis des ausgehenden 19. Jahrhunderts
leben Georgier neben Armeniern, arbeiten Griechen für Russen
und versuchen Westeuropäer am Rand des Orients mit
vermeintlichem zivilisatorischen Vorsprung und prall gefüllten
Lagern europäischer Industrieprodukte Gewinne zu machen; auch
der Schah von Persien nimmt auf seiner Bahnreise nach Europa zuerst in
der georgischen Hauptstadt Station, als ausgerechnet das favorisierte
Rennpferd "Royal Mary" nahezu spurlos verschwindet.
Nicht immer ist es für Leser leicht, Monsieur Albre zwischen
Morgenkakao und Roquefort-Imbiss in seinen kriminologischen
Erkenntnissen zu folgen und sich in diesem
Vielvölkergewühl zwischen den rasant wechselnden
Szenen und Tatorten nicht selbst zu verlieren.
Im Wettlauf zwischen Okzident, Orient und allen Kulturen dazwischen sei
hier selbstverständlich nicht verraten, ob die westliche
Geistesschärfe siegt oder die Stadt der Spelunken,
Märkte und Paläste mit ihrem unverwechselbaren und
hierzulande völlig unbekannten Charme. Es bleibt das
große Staunen, wie viele Figuren, Schauplätze und
Szenen auf den 127 Seiten des schmalen Büchleins und den etwas
zu knapp geratenen, aber hilfreichen Anmerkungsseiten Platz haben.
Mehr von der georgischen Atmosphäre verspricht nicht nur der
vierzigjährige Autor, der in Deutschland studiert hat.
Georgien ist Gastland an der Frankfurter Buchmesse 2018!
In Tiflis lebt und stirbt man weiter. Denn "erst wenn alle
tot sind, endet das Spiel", wird Rudyard
Kipling zu Beginn des lebensfrohen Romans zitiert.
(Wolfgang Moser; 06/2017)
Abo
Iaschaghaschwili: "Royal Mary. Ein Mord in Tiflis"
Aus dem Georgischen von Lia Wittek.
edition.fotoTAPETA, 2017. 127 Seiten.
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Abo Iaschaghaschwili wurde 1977 in Tiflis geboren und studierte in Tiflis, München und Berlin. Seit seiner Rückkehr nach Georgien lebt er als Schriftsteller und Bergführer in Tiflis. Er veröffentlichte bisher drei Romane, mehrere Kurzgeschichten und Beiträge für literarische Zeitschriften.