Stefan Hertmans: "Die Fremde"
Ein
historischer Roman, der keiner ist und der frappierende Parallelen zu
unserer Zeit aufzeigt
Der in Gent geborene flämische Autor Stefan Hertmans, der auf
Niederländisch schreibt, lebt in Brüssel und einem
kleinen Dorf in Südfrankreich, das sich unweit des Bergs
Ventoux befindet. Dieses Dorf heißt Monieux und wird in einem
Dokument erwähnt, das sich in der Handschriftensammlung der
Universität von Cambridge befindet. Dieses Dokument ist auf
Hebräisch verfasst und ungefähr tausend Jahre alt. Es
handelt sich um ein Empfehlungsschreiben, das einer zum Judentum
konvertierten Frau auf der Flucht vor Pogromen mitgegeben wurde. Die
Flucht der Frau führte sie nach Monieux, wo während
des Ersten
Kreuzzuges im elften Jahrhundert eines der schlimmsten
Pogrome dieser Zeit stattgefunden hat. Dieses Schicksal und der
Zusammenhang mit "seinem" Dorf beschäftigten Hertmans viele
Jahre, bis anno 2016 dann der Roman "Die Fremde" erschien, in dem er
meisterhaft eine Brücke über knapp tausend Jahre
schlägt.
In jenen Abschnitten, die in der Jetztzeit handeln, geht der Autor den
Spuren seiner Figuren nach, dokumentiert akribisch und versucht
fanatisch, zu sehen und zu verstehen, wie es dazu kommen konnte. Er
sieht Zusammenhänge, wo keine beweisbaren
Zusammenhänge vorhanden sind. Auch der Ursprung des Dokuments
ist nicht eindeutig. Gelehrte streiten darüber, ob wirklich
Monieux gemeint ist, oder doch der Muno in Nordspanien. Ein von
Hertmans in Monieux entdecktes Wasserbecken, das er als Teil eines
jüdischen Bades identifiziert, ist für ihn jedoch
Grund genug, Monieux als Ausgangspunkt und Ort der Niederschrift des
historischen Dokuments zu betrachten.
Der andere, historische Teil dieses Romans zeichnet die Geschichte der
"Fremden" selbst. Dank der Tatsache, dass er hier nicht auf eine
allwissende, rückblickende Erzählstimme setzt,
sondern aus der Sicht Vigdis, die nach ihrer Konvertierung zu Hamutal
wird, erzählt, schafft er eine extrem direkte Verbindung
zwischen dem Leser und der Protagonistin.
Hertmans gelingt das Kunststück, die Welt des elften
Jahrhunderts überzeugend und lebensnah zu schildern. Als Leser
ist man selbst in die Zeit zurückversetzt, hat nie das
Gefühl, einen historischen Roman zu lesen. Sehr schön
gelungen auch die Tatsache, dass Hertmans die beiden Ebenen, also die
heutige und die damalige, nicht blockhaft wechseln lässt,
sondern mehr oder weniger parallel führt, immer wieder
ausscherend, kommentierend und erklärend.
Nachdem der Mann der Protagonistin bei dem Massaker in der Synagoge vom
Monieux ermordet worden ist und ihre Kinder von Kreuzrittern
entführt werden, erkennt die kleine Gemeinde der
überlebenden Juden,
dass sie der nun ihrer Existenzgrundlage
beraubten Witwe nicht mehr helfen kann. Ihre Mittel sind
äußert begrenzt. So setzt der Rabbi das
Empfehlungsschreiben auf, in der Hoffnung, dass eine andere
jüdische Gemeinde ihr Asyl gewähren würde,
während sie auf der Suche nach ihren Kindern den Kreuzrittern
durch den Mittelmeerraum folgt. Daraus, dass das Dokument im geheimen
Dokumentenspeicher der Ben-Esra-Synagoge in Kairo gefunden wurde,
schließt Hertmans, dass sie letztendlich genau dort Zuflucht
gefunden hat.
Natürlich existiert kein Tagebuch der asylsuchenden Frau,
weshalb Stefan Hertmans hier eine Vorgeschichte der Frau sowie eine
rein fiktionale Flucht erschaffen muss. Das gelingt zumeist wirklich
überzeugend. Speziell die Gegend rund um das Dorf Monieux ist,
aufgrund der Kenntnisse, die Hertmans als dort Wohnhafter besitzt,
besonders überzeugend geschildert. Andere Abschnitte wirken
mitunter nicht ganz so perfekt, vor allem, weil sich der eine oder
andere Anachronismus eingeschlichen hat. Allerdings, das muss gesagt
sein, stört derlei das Leseerlebnis überhaupt nicht.
Es handelt sich um einen Roman, also ein Werk der Fiktion, und auch
wenn sich der Autor auf historisch belegbare Tatsachen stützt,
so ist der Großteil dieses literarischen
Meisterstücks doch das Resultat seiner schöpferischen
Fantasie.
Hertmans Prosa ist, ausgezeichnet übersetzt von Ira Wilhelm,
stilistisch hervorragend, nie flapsig, immer bedacht, das Notwendige
mitzuteilen. Dass er es von Zeit zu Zeit krachen lässt, ist,
bedenkt man, welche Abscheulichkeiten immer wieder lauern, nicht
störend, weil selbst das nie aus dem Rahmen seiner
stilsicheren Schreibweise fällt.
Die Parallelen, die sich zu den heute allseits präsenten
Flüchtlings- und Migrantenströmen,
Verfolgungen
und
chaotischen Zuständen offenbaren, sind frappierend. Und das
ist vielleicht sogar die ernüchterndste Erkenntnis,
die man nach der Lektüre dieses beeindruckenden Romans
gewonnen hat.
Nach "Der Himmel meines Großvaters" also der nächste
wirklich ausgezeichnete Roman des flämischen Autors. Es bleibt
zu hoffen, dass Hanser Berlin die weiteren Romane dieses
großen Schriftstellers in deutscher Übersetzung
veröffentlichen wird, weil man das Schaffen des Autors gerne
in seiner Gesamtheit erkunden möchte.
(Roland Freisitzer; 07/2017)
Stefan
Hertmans: "Die Fremde"
(Originaltitel "De Bekeerlinge")
Übersetzt aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm.
Hanser Berlin, 2017. 304 Seiten.
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Stefan Hertmans, geboren 1951, gilt als einer der wichtigsten niederländischsprachigen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. A. mit dem "Preis der flämischen Gemeinschaft für Prosa". Für "Der Himmel meines Großvaters" erhielt er 2014 den "AKO Literatuurprijs" und "De Gouden Uil".