Rodrigo Hasbún: "Die Affekte"


Die Kernessenz des Seins

Der Schriftsteller Rodrigo Hasbún wurde 1981 im bolivianischen Cochabamba geboren. Er ist Bolivianer palästinensischer Herkunft und wohnt in Houston. Der Roman "Die "Affekte" ist der zweite aus seiner Feder, allerdings der erste, der ins Deutscheübersetzt wurde.

Zu Beginn des Romans, der in kurzen Kapiteln aus wechselnden Perspektiven erzählt wird, wird man gleich in eine Situation hineingezogen, die, das merkt man gegen Ende dieses relativ kurzen aber äußerst dichten Romans, immens wichtig für das Verständnis der weiteren Handlung ist.
Aus Sicht einer Tochter wird erzählt, wie der Vater von einer Reise zum Nanga Parbat zurückkehrt und bereits beim familiären Abendessen Pläne für die nächsten Abenteuer schmiedet.
"Worauf es ankomme, sei doch die Kommunion mit der Natur, fuhr er fort, sein Bart so lang wie nie und dunkel wie seine ein wenig irren Augen, und die Möglichkeit, an Orte zu gelangen, von denen selbst Gott sich abgewandt hat, darauf komme es an. Um Gottes willen, was sage ich, korrigierte er sich, schon an der Schwelle zu einem jener Monologe, die, kaum dass er wieder da war und noch bevor das Schweigen und die Lust auf ein neues Abenteuer in ihm keimten, oft Stunden dauerten, gerade das sind ja die Orte, wo man ihn findet, wo Gott sich von unserer Undankbarkeit und Schäbigkeit erholt."

Der Vater ist niemand Geringerer als Hans Ertl, Leni Riefenstahls berühmter Kameramann und Extrembergsteiger, der u.A. 1934 bei der Erstbesteigung des Sia Kangri dabei war. 1952 emigrierte er mit seiner Familie nach Bolivien, weil er im Nachkriegsdeutschland mit Berufsverbot belegt war. 1953 war er auch Teilnehmer (er selbst nur bis zum letzten Hochlager) der Erstbesteigung des Nanga Parbat, genau jener Expedition, die zum Ausgangspunkt des hier vorliegenden Romans wird.

Rodrigo Hasbún hat sich bei der Erzähltechnik seines Romans, der auf gewissen historisch belegten Tatsachen basiert, obschon er ein Werk der Fiktion ist, dafür entschieden, die Jahre des Zerbrechens des Familienglücks der Familie Ertl aus verschiedensten Perspektiven zu erzählen. Alle kommen in diesem Roman zu Wort, manche öfter, manche nur einmal. Nicht immer ist es leicht, sofort zu wissen, aus wessen Perspektive gerade erzählt wird. Allerdings kann man sich rasch zurechtfinden, weil die sehr unterschiedlichen Kapitel stilistisch zuordenbar sind.

Große Pläne hat er, der Vater, der übertrieben groß angelegte Expeditionen in den Urwald plant, die er mit Dokumentarfilmen belegen und an staatliche Institutionen verkaufen will. Anfangs dabei, die Töchter, allen voran die "Lieblingstochter" Monika, die auch die älteste der drei Töchter ist. Während seine Pläne zu bröseln beginnen, geht auch die Familie langsam aber sicher den Bach runter. Hasbúns Erzählweise führt den Leser durch extreme Verdichtung ins Innerste der Familie.
Monikas pubertäre Depressionen, die Liebe zwischen der jungen Heidi und dem Macho Rudi, natürlich mit tragischem Ende, Trixis erste Zigarette, die sie mit ihrer Mutter raucht, Monikas unglückliche Ehe mit einem deutschen Einwanderer und ihre große Liebe zum Bruder ihres Gatten, der plötzliche, krankheitsbedingte Tod der Mutter und die Flucht des Vaters in eine neue Beziehung mit seiner ehemaligen Assistentin.
"In der Hochzeitsnacht bekommt er keinen hoch. Zum ersten Mal siehst du ihn nackt, siehst seinen sehnigen Körper, seinen langen, dünnen Schwanz, die Blinddarmnarbe, und keinerlei Gefühl oder Gewissheit meldet sich. Ist für Hochzeitsnächte aber wohl mehr oder weniger üblich, oder? Er berührt dich überall mit seinen sanften Feineleutehänden, fährt mit der Zunge über deine Brustwarzen, über deinen Hals, küsst dich ungeschickt, voller Verzweiflung oder Ungeduld oder Angst vor dir oder sich selbst, aber er bekommt keinen hoch, nicht einmal, als du seinen Schwanz liebkost."

Monika, die aufgrund ihrer frustrierenden Ehe beginnt, sich für den politischen Kampf in Bolivien zu interessieren, wird in den 1960er-Jahren zu einer berüchtigten und gejagten Guerillakämpferin, die nicht nur an einer versuchten Entführung Klaus Barbies (der auf Zutun Hans Ertls eine Anstellung in Bolivien gefunden hatte) beteiligt war, sondern auch den Racheakt für den getöteten Che Guevara am bolivianischen Konsul, Polizei-Oberst "Toto" Quintanilla, 1971 in Hamburg durchgeführt haben soll. Sie wurde 1973 von bolivianischen Sicherheitskräften erschossen. In die tödliche Falle soll sie Klaus Barbie gelockt haben, der, unvorstellbar eigentlich, für den Bundesdeutschen Nachrichtendienst tätig war.

All das als groß angelegter Familienroman, ein Familienepos eigentlich, spannend und extrem komprimiert erzählt. Da, wo andere Autoren mehrere hundert Seiten füllen würden, schafft es Rodrigo Hasbún, die Essenz zu finden, die andere übersehen. Es ist wahrlich berauschend, welche atmosphärische Dichte er erzeugen kann, welche Stimmungen und Gedanken er fast beiläufig auslöst, denn Rodrigo Hasbúns Prosa ist alles Andere als auf Effekte aus. Es ist sein feinst instrumentierter, feinst ausgehörter und sehr wandlungsfähiger Tonfall, der vom ersten bis zum letzten Moment fesselt, ein Tonfall, der natürlich auch der kongenialen Übersetzung Christian Hansens zugeschrieben werden muss.
Am Ende dieses Romans kann man dann fast nicht glauben, lediglich 142 Seiten gelesen zu haben.

(Roland Freisitzer; 08/2017)


Rodrigo Hasbún: "Die Affekte"
(Originaltitel "Los Afectos")
Aus dem Spanischen von Christian Hansen.
Suhrkamp, 2017. 142 Seiten.
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