Juan Goytisolo: "Landschaften nach der Schlacht"


Apokalyptische Humoreske und tragisch-zeitlose Bestandsaufnahme

Einen ganz speziellen Bewohner des Pariser Sentier hat Juan Goytisolo als Hauptfigur erschaffen, einen abgründigen Sonderling, der vermutlich nicht nur den Geburtstag mit ihm gemein hat(te). Vor langer Zeit aus Francos Spanien geflohen, kürzlich aus dem Berufsleben ausgeschieden, Tür an Tür mit und doch getrennt von seiner Frau lebend (oder doch nicht?), streunt der zunächst vom onkelhaften Erzähler gehätschelte Perversling, (der im Verlauf der Handlung ein wenig Mitgefühl verdient, weil ihn der nur scheinbar seriöse Erzähler zwischen alptraumhaften Szenen und vom gebeutelten Protagonisten selbst geschilderten Normalitäten pendeln und mitunter schier verzweifeln lässt), so er nicht in seiner Dachwohnung hockt und Streiche oder Schlimmeres ausheckt, ins Waschbecken uriniert, seine Nägel feilt und sich vor Warzen fürchtet, mit Hut, Mantel, Sonnenbrille und seiner zahmen Maus durch Paris. Er sammelt Eindrücke, wenn er nicht gerade kleine Mädchen oder Hunde in Parks belästigt, bekifft in Pornokinos sitzt, Kontaktanzeigen ordnet, Horoskope studiert, Leserbriefe oder wissenschaftliche Artikel verfasst, seltsamen politischen Zusammenkünften beiwohnt oder seiner Leidenschaft für untergangene Völker frönt.

Wobei gar nicht sicher ist, dass er all das tatsächlich auf dem Kerbholz hat. Denn allen Warnungen des zunehmend nicht minder dubios wirkenden Erzählers an den Leser zum Trotz, scheint der übel beleumundete namenlose "Reverend" seine eigene Geschichte zu erzählen, so er denn zu Wort kommt, sodass sich die Grenzen zwischen Vorurteilen und Wirklichkeiten, zwischen Gerüchten und Tatsachen geradezu auflösen.
Verschwörerisch versucht der Erzähler, ein besonderer Kunstgriff Juan Goytisolos, den Leser zu beeinflussen, ihn zum Mitwisser und Kollaborateur zu machen, seinen Blick zu vernebeln.
"An diesem Punkt angekommen, brauchen wir nicht mehr zu betonen, dass die Bandbreite der Beschäftigungen und Interessen unseres Wandersmannes eher beschränkt ist: manische, obsessive, fast köterhafte Streifzüge durch den Sentier; extravagante und erratische Besuche bei Zusammenkünften und Marabuts; nicht eben empfehlenswerte Lektüren, Kompilation von Zeitungsausschnitten, briefliche Fantasien, indiskretes Abhören der Gespräche seiner Frau."

Eventuell vermag der erste Lektüreeindruck zu täuschen, denn Juan Goytisolo hat zwar Paris und seine Einwohner gewissermaßen als Vorlagen benutzt, doch mittels unterschiedlicher Stilmittel und häufiger Erzählperspektivenwechsel viel mehr als einen pornografisch angehauchten sozialkritischen Roman über touristischen Gedanken unzugängliche Seiten der französischen Metropole geschaffen. Es gilt die Devise, dass es sich trotz womöglich anfänglichen Ekelgefühls unbedingt lohnt, weiterzulesen, werden doch neben allerlei Gesellschafts- bzw. Zivilisationskritik und Aussagen wie auch Fantasien über Zuwanderung im großen Stil, neben gebrandmarkten Scheinobjektivitäten und Pseudowahrheiten auch heißblütige Anklagen der unauslöschlichen Dummheiten der Menschheit sowie hinsichtlich des Konzepts aufschlussreiche Passagen wie diese geboten: "(...) letzten Endes weiß er nicht mehr, ob er dieses abseitige Individuum ist, das seinen Namen usurpiert, oder ob dieser Goytisolo ihn eben erschafft."
Der Protagonist ist einerseits zynisch, konsequent und eiskalt, andererseits interessiert er sich ernsthaft für politische Strömungen und liebt die Poesie des Sufi-Mystikers Dschelaladdin Rumi. Er verursacht eine Mäuseplage, bewegt sich vornehmlich in einer Gegenwelt zur Pariser Künstlerszene, nimmt an konspirativen Treffen teil, muss Verhöre und Folter über sich ergehen lassen (oder auch nicht!?), erlebt im Aufzug eine sich zur Katastrophe auswachsende Begegnung mit seiner Frau und bleibt dennoch stets nur seiner eigenen Innenwelt verpflichtet.

Dieses Schicksal teilt(e) er wohl mit seinem Schöpfer Juan Goytisolo, dem Verfasser von Romanen, Erzählungen, Reisebüchern und Essaysammlungen, der - wie so viele Andere - jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis galt.

Juan Goytisolo auf dem Dach seines Hauses in Marrakesch.
Foto: Doris Krestan, 06.02.2010.

Juan Goytisolo wurde am 5. Jänner 1931 in Barcelona geboren und wuchs in großbürgerlichem Milieu auf. Seine Mutter Júlia Gay kam im Jahr 1938 bei einem Bombenangriff der italienischen Luftwaffe ums Leben. 1956 brach der entschiedene Franco-Gegner Juan Goytisolo sein Jurastudium ab und ging nach Frankreich ins Exil, Ursprung des besonderen Blicks eines Fremden auf seine Umgebung. In seinem Herkunftsland Spanien waren Goytisolos Werke in den Jahren 1963 bis 1975 verboten.
Bevor er als Schriftsteller Erfolg hatte, arbeitete Juan Goytisolo als Lektor beim bedeutenden französischen Literaturverlag "Gallimard". Der nach und nach offen zu seiner Homosexualität stehende Autor heiratete 1978 die französische Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Übersetzerin Monique Lange (1926-1996). Er verkehrte in den Kreisen der damaligen Pariser Intellektuellen- und Künstlerszene, z.B. war er mit Jean Genet (1910-1986) befreundet, mit dem ihn vor allem die Liebe zur arabischen Welt (und den dortigen Männern) verband.

Goytisolo, der neben Spanisch und Französisch auch Arabisch und Englisch beherrschte, war journalistisch tätig und politisch engagiert, setzte sich für Minderheiten ebenso wie für Benachteiligte ein und galt als Mittler zwischen den Kulturen.
Er dozierte in den Jahren 1969 bis 1975 an den Universitäten von Kalifornien, Boston und New York über Literatur und unternahm in den 1960er-Jahren viele ausgedehnte Reisen.
Kurz nachdem seine Ehefrau gestorben war, zog Goytisolo endgültig in seine Wahlheimat Marokko, wo er drei Kinder adoptierte, die laut seinem Testament seine Universalerben sind.
Im Jahr 2014 wurde Juan Goytisolo, bereits zuvor mit zahlreichen Preisen geehrt, mit dem renommierten "Cervantes-Preis", dem bedeutendsten literarischen Preis der spanischsprachigen Welt, ausgezeichnet.
Nachdem er im März 2017 einen Schlaganfall erlitten hatte, starb Juan Goytisolo im Alter von 86 Jahren am Sonntag, 4. Juni 2017 in seinem Haus in der Altstadt von Marrakesch. Er wurde wunschgemäß im marokkanischen Larache auf jenem Friedhof am Meer bestattet, wo auch Jean Genet begraben liegt.
Sein Grabmal trägt die schlichte Inschrift: "Juan Goytisolo. Escritor. Barcelona 1931 - Marrakech 2017".

Der Roman "Landschaften nach der Schlacht", 1982 in Berlin vollendet, ist ein höchst origineller, kunstvoll gearbeiteter Text, der erst nach und nach die besonderen Qualitäten seiner Erzählstruktur offenbart, indem er wesentlich weiter ausholt, als ausschließlich Probleme zwischen Alteingesessenen und Exilanten, zwischen Normalbürgern und Abtrünnigen abzuhandeln, und erheblich mehr beleuchtet als die Dehnbarkeit und allgemeine Fragwürdigkeit eines wie auch immer gearteten Toleranzbegriffs; da hat jeder Mensch seine eigene Schwelle, Identitätssuche hin oder her.
Herausragende Literatur erhebt sich zum Glück über die erwiesenermaßen kaum jemals erbaulichen oder gar wahren Niederungen der kurzlebigen Schlagzeilenrealität, und das stellt ihren bleibenden Wert dar!

Juan Goytisolo hat seinem in 78 einfallsreich betitelte Kurzkapitel gegliederten Roman folgendes Zitat aus Gustave Flauberts "Bouvard et Pécuchet" vorangestellt: "Sie zogen in Zweifel: die Redlichkeit der Männer, die Keuschheit der Frauen, die Klugheit der Regierung, die Vernunft des Volkes; sie untergruben also die Grundlagen."
Und in der Tat treibt die unauslöschliche Dummheit auch die Gestalten in den "Landschaften nach der Schlacht" geradezu vor sich her, zeigt die Menschen als unbelehrbare Narren.
Manche Szenen wirken, als läse man einen tragischen Schelmenroman (wenn der nostalgisch-kommunistische Protagonist beispielsweise mit der von ihm verehrten Wachsfigur Stalins - nun ja - tanzt), andere angestrengt pervers zwecks Provokation ersonnen, an einigen Stellen wiederum bohrt sich der belehrende Zeigefinger des Erzählers/Autors gnadenlos durch das Dickicht aus Sünden und Fehlverhalten, wenn es gilt, sich für multikulturelles Zusammenleben und fremdenfreundliche Vielfalt in die Schlacht zu werfen, den Entwicklungsverweigerern zumindest einen Zerrspiegel vorzuhalten, und sei es nur als Selbstzweck.
Der offenkundig autobiografisch gefärbte Roman arbeitet mit detaillierten Aufzählungen, Werbebotschaften, Horrorszenarien, lustvoll übersteigerten Extremen, Schwarzweißmalerei bzw. Schwarzweißfärberei, nicht nur zur Kontrastverstärkung, wie der aufmerksame Leser rasch argwöhnt. Somit bildet "Landschaften nach der Schlacht" wohl zu keinem geringen Ausmaß Juan Goytisolos eigene wechselnde Perspektiven ab, es enttarnt sich ein mehr oder minder freiwilliges Sitzen eines engagierten Welterklärers zwischen zahlreichen Stühlen, ein bisweilen opportunistisches Eintauchen in zeitgeistige Strömungen, ein zynischer Hang zur Manipulation Leichtgläubiger, eine allumfassende Heimatlosigkeit, ein Abschied von sämtlichen Gewissheiten, und zugleich werden auch die Kehrseiten der Medaillen betrachtet; keiner kommt ungeschoren davon, auch der Schriftsteller selbst nicht.
Kollektive Ängste und Befürchtungen, die Anfang der 1980er-Jahre von Bedeutung waren (und zum Teil auch heute noch sind), wurden ebenso genüsslich wie hemmungslos ausgeschlachtet.
Das (postmoderne?) Ende führt zurück an den Beginn, als eines Morgens im Stadtviertel blankes Chaos ausbricht, weil über Nacht sämtliche Schilder mit fremden Schriftzeichen übermalt worden sind. Vom Standpunkt der Dummheit aus betrachtet, wird einfach eine neue Runde im ewigen Spiel der Menschen und Mächte eröffnet.

Herausgekommen ist ein geistreicher Text, der jedoch keineswegs hundertprozentig ernstgenommen werden, sondern als höchstpersönlich gefärbte Fantasie Juan Goytisolos Aufmerksamkeit (und Widerspruch und Anderes) erregen will. Der bleibende Wert besteht vornehmlich darin, Beispiel und Mahnung zugleich zu sein, Meinungs(ver)führern nicht auf den Leim zu gehen und das eigenständige Denken nicht an Marktschreier und Pseudoaltruisten zu delegieren, mögen ihre Aussagen noch so kraftvoll, plausibel oder gar fortschrittlich klingen.

Übrigens hat Juan Goytisolos in Barcelona ansässige Literaturagentur "Carmen Balcells" verlautbart, über ein unveröffentlichtes Werk des Autors zu verfügen, das erst zehn bis zwanzig Jahre nach seinem Tod publiziert werden soll. Man darf also (lange Zeit) gespannt sein!

(kre; 07/2017)


Juan Goytisolo: "Landschaften nach der Schlacht"
(Originaltitel "Paisajes después de la batalla")
Aus dem Spanischen von Gisbert Haefs.
Suhrkamp, 1990. 175 Seiten.
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Süddeutsche Zeitung Bibliothek, 2007. 155 Seiten.
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