Juan Goytisolo: "Landschaften nach der Schlacht"
Apokalyptische Humoreske
und tragisch-zeitlose Bestandsaufnahme Juan Goytisolo
wurde am 5. Jänner 1931 in Barcelona geboren und wuchs in
großbürgerlichem Milieu auf. Seine Mutter Júlia Gay kam im
Jahr 1938 bei einem Bombenangriff der italienischen
Luftwaffe ums Leben. 1956 brach der entschiedene
Franco-Gegner Juan Goytisolo sein Jurastudium ab und ging
nach Frankreich ins Exil, Ursprung des besonderen Blicks
eines Fremden auf seine Umgebung. In seinem Herkunftsland
Spanien waren Goytisolos Werke in den Jahren 1963 bis 1975
verboten.
Einen ganz speziellen Bewohner des Pariser Sentier hat Juan Goytisolo
als Hauptfigur erschaffen, einen abgründigen Sonderling, der vermutlich
nicht nur den Geburtstag mit ihm gemein hat(te). Vor langer Zeit aus
Francos Spanien geflohen, kürzlich aus dem Berufsleben ausgeschieden,
Tür an Tür mit und doch getrennt von seiner Frau lebend (oder doch
nicht?), streunt der zunächst vom onkelhaften Erzähler gehätschelte
Perversling, (der im Verlauf der Handlung ein wenig Mitgefühl verdient,
weil ihn der nur scheinbar seriöse Erzähler zwischen alptraumhaften
Szenen und vom gebeutelten Protagonisten selbst geschilderten
Normalitäten pendeln und mitunter schier verzweifeln lässt), so er nicht
in seiner Dachwohnung hockt und Streiche oder Schlimmeres ausheckt, ins
Waschbecken uriniert, seine Nägel feilt und sich vor Warzen fürchtet,
mit Hut, Mantel, Sonnenbrille und seiner zahmen Maus durch Paris. Er
sammelt Eindrücke, wenn er nicht gerade kleine Mädchen oder Hunde in
Parks belästigt, bekifft in Pornokinos sitzt, Kontaktanzeigen ordnet,
Horoskope studiert, Leserbriefe
oder wissenschaftliche Artikel verfasst, seltsamen politischen
Zusammenkünften beiwohnt oder seiner Leidenschaft für untergangene
Völker frönt.
Wobei gar nicht sicher ist, dass er all das tatsächlich auf dem Kerbholz
hat. Denn allen Warnungen des zunehmend nicht minder dubios wirkenden
Erzählers an den Leser zum Trotz, scheint der übel beleumundete
namenlose "Reverend" seine eigene Geschichte zu erzählen, so er denn zu
Wort kommt, sodass sich die Grenzen zwischen Vorurteilen und
Wirklichkeiten, zwischen Gerüchten und Tatsachen geradezu auflösen.
Verschwörerisch versucht der Erzähler, ein besonderer Kunstgriff Juan
Goytisolos, den Leser zu beeinflussen, ihn zum Mitwisser und
Kollaborateur zu machen, seinen Blick zu vernebeln.
"An diesem Punkt angekommen, brauchen wir nicht mehr zu betonen,
dass die Bandbreite der Beschäftigungen und Interessen unseres
Wandersmannes eher beschränkt ist: manische, obsessive, fast
köterhafte Streifzüge durch den Sentier; extravagante und erratische
Besuche bei Zusammenkünften und Marabuts; nicht eben empfehlenswerte
Lektüren, Kompilation von Zeitungsausschnitten, briefliche Fantasien,
indiskretes Abhören der Gespräche seiner Frau."
Eventuell vermag der erste Lektüreeindruck zu täuschen, denn Juan
Goytisolo hat zwar Paris und seine Einwohner gewissermaßen als Vorlagen
benutzt, doch mittels unterschiedlicher Stilmittel und häufiger
Erzählperspektivenwechsel viel mehr als einen pornografisch angehauchten
sozialkritischen Roman über touristischen Gedanken unzugängliche Seiten
der französischen Metropole geschaffen. Es gilt die Devise, dass es sich
trotz womöglich anfänglichen Ekelgefühls unbedingt lohnt, weiterzulesen,
werden doch neben allerlei Gesellschafts- bzw. Zivilisationskritik und
Aussagen wie auch Fantasien über Zuwanderung im großen Stil, neben
gebrandmarkten Scheinobjektivitäten und Pseudowahrheiten auch
heißblütige Anklagen der unauslöschlichen Dummheiten der Menschheit
sowie hinsichtlich des Konzepts aufschlussreiche Passagen wie diese
geboten: "(...) letzten Endes weiß er nicht mehr, ob er dieses
abseitige Individuum ist, das seinen Namen usurpiert, oder ob dieser
Goytisolo ihn eben erschafft."
Der Protagonist ist einerseits zynisch, konsequent und eiskalt,
andererseits interessiert er sich ernsthaft für politische Strömungen
und liebt die Poesie des Sufi-Mystikers Dschelaladdin
Rumi. Er verursacht eine Mäuseplage, bewegt sich vornehmlich in
einer Gegenwelt zur Pariser Künstlerszene, nimmt an konspirativen
Treffen teil, muss Verhöre und Folter über sich ergehen lassen (oder
auch nicht!?), erlebt im Aufzug eine sich zur Katastrophe auswachsende
Begegnung mit seiner Frau und bleibt dennoch stets nur seiner eigenen
Innenwelt verpflichtet.
Dieses Schicksal teilt(e) er wohl mit seinem Schöpfer Juan Goytisolo,
dem Verfasser von Romanen, Erzählungen, Reisebüchern und
Essaysammlungen, der - wie so viele Andere - jahrelang als Anwärter auf
den Literaturnobelpreis galt.
Juan Goytisolo auf dem Dach seines
Hauses in Marrakesch.
Foto: Doris Krestan, 06.02.2010.
Bevor er als Schriftsteller Erfolg hatte, arbeitete Juan
Goytisolo als Lektor beim bedeutenden französischen
Literaturverlag "Gallimard". Der nach und nach offen zu
seiner Homosexualität stehende Autor heiratete 1978 die
französische Schriftstellerin, Drehbuchautorin und
Übersetzerin Monique Lange (1926-1996). Er verkehrte in den
Kreisen der damaligen Pariser Intellektuellen- und
Künstlerszene, z.B. war er mit Jean Genet (1910-1986)
befreundet, mit dem ihn vor allem die Liebe zur arabischen
Welt (und den dortigen Männern) verband.
Goytisolo,
der neben Spanisch und Französisch auch Arabisch und Englisch
beherrschte, war journalistisch tätig und politisch engagiert, setzte
sich für Minderheiten ebenso wie für Benachteiligte ein und galt als
Mittler zwischen den Kulturen.
Er dozierte in den Jahren 1969 bis 1975 an den Universitäten von
Kalifornien, Boston und New York über Literatur und unternahm in den
1960er-Jahren viele ausgedehnte Reisen.
Kurz nachdem seine Ehefrau gestorben war, zog Goytisolo endgültig in
seine Wahlheimat Marokko, wo er drei Kinder adoptierte, die laut
seinem Testament seine Universalerben sind.
Im Jahr 2014 wurde Juan Goytisolo, bereits zuvor mit zahlreichen
Preisen geehrt, mit dem renommierten "Cervantes-Preis", dem
bedeutendsten literarischen Preis der spanischsprachigen Welt,
ausgezeichnet.
Nachdem er im März 2017 einen Schlaganfall erlitten hatte, starb Juan
Goytisolo im Alter von 86 Jahren am Sonntag, 4. Juni 2017 in seinem
Haus in der Altstadt von Marrakesch. Er wurde wunschgemäß im
marokkanischen Larache auf jenem Friedhof am Meer bestattet, wo auch
Jean Genet begraben liegt.
Sein Grabmal trägt die schlichte Inschrift: "Juan Goytisolo.
Escritor. Barcelona 1931 - Marrakech 2017".
Der Roman "Landschaften nach der Schlacht", 1982 in Berlin vollendet,
ist ein höchst origineller, kunstvoll gearbeiteter Text, der erst nach
und nach die besonderen Qualitäten seiner Erzählstruktur offenbart,
indem er wesentlich weiter ausholt, als ausschließlich Probleme
zwischen Alteingesessenen und Exilanten, zwischen Normalbürgern und
Abtrünnigen abzuhandeln, und erheblich mehr beleuchtet als die
Dehnbarkeit und allgemeine Fragwürdigkeit eines wie auch immer
gearteten Toleranzbegriffs; da hat jeder Mensch seine eigene Schwelle,
Identitätssuche hin oder her.
Herausragende Literatur erhebt sich zum Glück über die erwiesenermaßen
kaum jemals erbaulichen oder gar wahren Niederungen der kurzlebigen
Schlagzeilenrealität, und das stellt ihren bleibenden Wert dar!
Juan Goytisolo hat seinem in 78 einfallsreich betitelte Kurzkapitel
gegliederten Roman folgendes Zitat aus Gustave Flauberts "Bouvard
et Pécuchet" vorangestellt: "Sie zogen in Zweifel: die
Redlichkeit der Männer, die Keuschheit der Frauen, die Klugheit der
Regierung, die Vernunft des Volkes; sie untergruben also die
Grundlagen."
Und in der Tat treibt die unauslöschliche Dummheit auch die Gestalten
in den "Landschaften nach der Schlacht" geradezu vor sich her, zeigt
die Menschen als unbelehrbare Narren.
Manche Szenen wirken, als läse man einen tragischen Schelmenroman
(wenn der nostalgisch-kommunistische Protagonist beispielsweise mit
der von ihm verehrten Wachsfigur Stalins
- nun ja - tanzt), andere angestrengt pervers zwecks Provokation
ersonnen, an einigen Stellen wiederum bohrt sich der belehrende
Zeigefinger des Erzählers/Autors gnadenlos durch das Dickicht aus
Sünden und Fehlverhalten, wenn es gilt, sich für
multikulturelles Zusammenleben und fremdenfreundliche Vielfalt in die
Schlacht zu werfen, den Entwicklungsverweigerern zumindest einen
Zerrspiegel vorzuhalten, und sei es nur als Selbstzweck.
Der offenkundig autobiografisch gefärbte Roman arbeitet mit
detaillierten Aufzählungen, Werbebotschaften, Horrorszenarien,
lustvoll übersteigerten Extremen, Schwarzweißmalerei bzw.
Schwarzweißfärberei, nicht nur zur Kontrastverstärkung, wie der
aufmerksame Leser rasch argwöhnt. Somit bildet "Landschaften nach der
Schlacht" wohl zu keinem geringen Ausmaß Juan Goytisolos eigene
wechselnde Perspektiven ab, es enttarnt sich ein mehr oder minder
freiwilliges Sitzen eines engagierten Welterklärers zwischen
zahlreichen Stühlen, ein bisweilen opportunistisches Eintauchen in
zeitgeistige Strömungen, ein zynischer Hang zur Manipulation
Leichtgläubiger, eine allumfassende Heimatlosigkeit, ein Abschied von
sämtlichen Gewissheiten, und zugleich werden auch die Kehrseiten der
Medaillen betrachtet; keiner kommt ungeschoren davon, auch der
Schriftsteller selbst nicht.
Kollektive Ängste und Befürchtungen, die Anfang der 1980er-Jahre von
Bedeutung waren (und zum Teil auch heute noch sind), wurden ebenso
genüsslich wie hemmungslos ausgeschlachtet.
Das (postmoderne?) Ende führt zurück an den Beginn, als eines Morgens
im Stadtviertel blankes Chaos ausbricht, weil über Nacht sämtliche
Schilder mit fremden Schriftzeichen übermalt worden sind. Vom
Standpunkt der Dummheit aus betrachtet, wird einfach eine neue Runde
im ewigen Spiel der Menschen und Mächte eröffnet.
Herausgekommen ist ein geistreicher Text, der jedoch keineswegs
hundertprozentig ernstgenommen werden, sondern als höchstpersönlich
gefärbte Fantasie Juan Goytisolos Aufmerksamkeit (und Widerspruch und
Anderes) erregen will. Der bleibende Wert besteht vornehmlich darin,
Beispiel und Mahnung zugleich zu sein, Meinungs(ver)führern nicht auf
den Leim zu gehen und das eigenständige Denken nicht an Marktschreier
und Pseudoaltruisten zu delegieren, mögen ihre Aussagen noch so
kraftvoll, plausibel oder gar fortschrittlich klingen.
Übrigens hat Juan
Goytisolos in Barcelona ansässige Literaturagentur "Carmen
Balcells" verlautbart, über ein unveröffentlichtes Werk des
Autors zu verfügen, das erst zehn bis zwanzig Jahre nach seinem
Tod publiziert werden soll. Man darf also (lange Zeit) gespannt sein!
(kre; 07/2017)
Juan
Goytisolo: "Landschaften nach der Schlacht"
(Originaltitel "Paisajes después de la batalla")
Aus dem Spanischen von Gisbert Haefs.
Suhrkamp, 1990. 175 Seiten.
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Süddeutsche Zeitung Bibliothek, 2007. 155 Seiten.
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