Franzobel: "Das Floß der Medusa"
Vom
nackten Überlebenskampf
Für seinen Roman "Das Floß der Medusa" hat sich der
österreichische Autor Franzobel vom im Louvre
hängenden Bild Géricaults inspirieren lassen. Das
Bild trägt den lakonischen und unverfänglichen Titel
"Szene eines Schiffbruchs", obwohl es ein wahres und
skandalöses Ereignis festhält. Ein Ereignis, das dazu
geführt hat, dass der für die Marine
zuständige Minister sowie an die zweihundert Marineoffiziere
entlassen wurden. Um die Tragödie trotz
schöpferischer und künstlerischer Freiheit
möglichst realistisch darstellen zu können, hat sich
Géricault akribisch darauf vorbereitet. Er studierte Farben
und Beschaffenheit von Leichen, zeichnete unzählige Skizzen
und Vorarbeiten, unter Anderem eine Kannibalismusszene, die er
später wieder verworfen hat. Das Sujet hat bereits einige
Autoren zu Stücken, Essays und Romanen inspiriert, wie Georg
Kaiser,
Julian Barnes, Vercors,
Henning
Mankell und Günter Seuren. Auch
Peter
Weiss bezieht sich in seinem Roman "Die Ästhetik des
Widerstands" auf das Ereignis, und Hans Werner Henze komponierte anno
1968 das szenische Oratorium mit dem Titel "Das Floß der
Medusa". Franzobel hat sich für seinen Roman mindestens ebenso
akribisch vorbereitet, beispielsweise mittels Lektüre
unzähliger Romane und Sachbücher über die
Seefahrerei.
Herausgekommen ist ein nicht nur hinsichtlich des Umfangs wahrlich
großer Roman, der sich einerseits wie ein spannender
Abenteuerroman liest, andererseits eine treffsichere
Gesellschaftskritik ist.
Im Jahr 1816 bricht die "Medusa" samt zwei Begleitschiffen von
Frankreich in Richtung Afrika auf. An Bord befindet sich eine bunte
Schar von Passagieren, die man wahrscheinlich, möchte man die
heutige Terminologie verwenden, als Wirtschaftsflüchtlinge
bezeichnen könnte. Die Absurdität dieses Begriffes
führt Franzobel geschickt aufs Glatteis und lässt ihn
genauso verunglücken wie die "Medusa" selbst. Mit an Bord ist
der französische Arzt Savigny, dessen
Überlebensbericht zu einem der wichtigsten Dokumente wird. Der
Kapitän der "Medusa" ist Hugues Duroy de Chaumareys, ein
absolut unfähiger und charakterschwacher Mann, der an der
Tragödie der "Medusa" sicherlich die Hauptschuld
trägt.
Eitelkeit, Ahnungslosigkeit, Nationalstolz, Egomanie und Feigheit sind
jene Komponenten, die dazu beitragen, dass das Schiff auf einer
Sandbank aufläuft und nicht mehr freizubekommen ist. In
Ermangelung einer ausreichenden Anzahl an Rettungsbooten baut man ein
Floß, um die Passagiere mit den wenigen Rettungsbooten zum
Festland zu schleppen. Da die Aktion zu scheitern droht, kappt man die
Seile zum Floß und überlässt die
einhundertneunundvierzig Passagiere ihrem Schicksal. Nur
fünfzehn von ihnen werden gerettet.
Das Geschehen auf dem Floß gestaltet sich fast unvorstellbar
grausam, weil die einzige Nahrungsquelle die Passagiere selbst sind.
Franzobel schafft es, den Ein- bzw. Zusammenbruch von Ethik, Moral und
Zivilisation so eindringlich zu schildern, dass man rasch auch die im
Hintergrund, oder besser: zwischen den Zeilen, lauernden Parallelen zur
Gegenwart sieht. Unserer Gegenwart, in der die Bereitschaft, Ethik,
Moral und die Errungenschaften der Zivilisation über Bord zu
werfen, bereits so fortgeschritten ist, dass man sich fragt, was noch
notwendig ist, damit die Dämme endgültig brechen. Man
möchte eventuell den Hetzern und Angstschürern dieses
Buch mit einer Leseverpflichtung in die Hand drücken.
Franzobels besonders eigenständige Prosa ist in diesem Buch
wahrlich am rechten Platz. Noch nie war sie in ihrer Derbheit und
schonungslosen Rauheit so treffend wie hier. Das leicht
Geschwätzige, das einige seiner früheren Romane
prägt, wie z.B. "Lusthaus
oder
Die Schule der Gemeinheit" oder auch "Was die
Männer so treiben, wenn die Frauen im Badezimmer sind",
befindet sich hier im Einklang mit der Groteske und der Blasiertheit
seiner Protagonisten. Dabei entsteht ein wuchtiges literarisches,
barock-opulentes Gemälde, das den Leser, im positiven Sinn der
Möglichkeiten der Literatur, geradezu erschlägt.
Der Roman setzt nach einer kurzen Ansprache, die ein wenig an Brecht
erinnert, mit der Rettung der Überlebenden ein. Der
Kapitän der "Argus" entdeckt im Meer ein Floß mit
den ausgehungerten und traurigen Gestalten. Sie sind einerseits
traumatisierte Opfer und andererseits aber auch Täter, die nur
überlebt haben, weil sie bei der Demontage der Moral
mitgemacht haben. Basierend auf den Berichten der
Überlebenden, aber auch mit einer gehörigen Portion
künstlerischer Freiheit, entwickelt sich der Text weiter.
Schmachtfetzen ist "Das Floß der Medusa" keiner,
dafür bürgt schon alleine der Name des Autors. Mit
seiner sprühenden Fantasie und der ihm eigenen Ironie
konzentriert sich Franzobel auf die Darstellung des Dramas in seinem
ganzen historisch belegten Ausmaß. Er zeigt das Elend ebenso
schonungslos auf, wie die Doppelmoral und Gewinnsucht der
überheblichen Europäer, die aus
rücksichtloser Gier Schutz in Afrika suchen. Gerade dort, wo
sie die "Wilden" vermuten, werden sie selbst zu "Wilden" und im
Überlebenskampf zu Kannibalen. Einige der Szenen gehen hart an
die Grenze des Erträglichen, allerdings nie um der
Schockwirkung willen, sondern immer im Dienst der Darstellung der
menschlichen Psyche und der literarischen Botschaft, die trotz aller
Opulenz subtil und ohne Brechstange vermittelt wird. Sofern man bereit
ist, zwischen den Zeilen zu lesen. Und das ist, ohne Wenn und Aber,
einfach große Literatur.
Mit "Das Floß der Medusa" hat Franzobel seinen bisher besten
Roman geschrieben. Einen Roman, der sein Können eindrucksvoll
und in jeder Hinsicht überzeugend belegt. Man hat das
Gefühl, dieser Stoff habe nur darauf gewartet, von Franzobel
entdeckt zu werden. Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, sollte "Das
Floß der Medusa" nicht nur eine große Leserschaft
finden, sondern auch diverse Preise, vielleicht sogar den "Deutschen
Buchpreis" einfahren. Selbst wenn die Verleihung des Preises nur eine
Zugabe wäre, nicht mehr und nicht weniger.
Chapeau!
(Roland Freisitzer; 03/2017)
Franzobel:
"Das Floß der Medusa"
Zsolnay, 2017. 592 Seiten.
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Weitere
Buchtipps:
Wolfgang Schmidbauer: "Das Floß der Medusa. Was wir zum
Überleben brauchen"
"Die globalisierte Konsumgesellschaft muss scheitern. Sollten
wir daher nicht alles Mögliche tun, uns geistig und emotional
auf die Improvisation von Rettungsflößen
vorzubereiten?"
Inspiriert von der tragischen Geschichte um "Das Floß der
Medusa" zeigt Wolfgang Schmidbauer seinen Lesern, wie die Gesellschaft
heute besser sein kann als die Besatzung der "Medusa" einst. Der
Kapitän hatte damals alle Warnungen ignoriert und die Fregatte
auf eine Sandbank gesteuert. Dann beanspruchten die Offiziere den viel
zu knappen Raum auf den Rettungsbooten und versprachen, den Rest der
Passagiere auf einem eilig gezimmerten Floß an Land zu
schleppen - und brachen ihr Versprechen. Das Floß war eine
Lüge der Mächtigen: Hunger, Kannibalismus und
wütende Kämpfe um die verbliebenen Ressourcen
führten in die Katastrophe.
Wolfgang Schmidbauer zeigt überraschende Parallelen zu unserem
eigenen Umgang mit den existenziellen Krisen der Gegenwart - die
Passagiere auf dem wackeligen Floß: das sind wir alle. Der
Autor analysiert die Lähmungen, welche der
Kapitalismus
unserer Psyche zumutet, und fordert uns auf, Gruppen zu bilden,
gemeinsam zu lernen und verschüttete Begabungen freizulegen.
"So können wir tragfähige Flöße
bauen und eine von unseren eigenen Irrtümern
verwüstete Erde neu beleben." (Murmann)
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Jean B. Savigny, Alexandre Corréard: "Der
Schiffbruch der Fregatte Medusa. Ein dokumentarischer Roman aus dem
Jahr 1818"
Die Wahrheit ist oft unwahrscheinlich! Am 2. Juli 1816 zerbrach die auf
Grund gelaufene Fregatte Medusa vor der Küste Afrikas. Da
nicht genügend Rettungsboote an Bord waren, wurde ein
Floß gezimmert, auf dem nicht weniger als 150 Personen
untergebracht wurden. Ohne Skrupel entfernten sich die Rettungsboote
und ließen das weitgehend manövrierunfähige
Gefährt zurück. Als das Floß durch Zufall
nach zwölf Tagen entdeckt wurde, befanden sich nur noch
fünfzehn Personen am Leben. Der vorliegende Romanbericht
zweier Überlebender beschreibt eindrucksvoll den Kampf auf
hoher See sowohl gegen den Hunger
als auch gegen die Leidensgenossen.
Berühmt wurde der Text nicht nur durch die erstaunlich
nüchterne Schilderung von Meuterei und Kannibalismus, sondern
auch durch die politische Bedeutung, da nicht wenige Zeitgenossen in
diesem Schiffbruch ein Bild des Staatsschiffs sahen. Die Medusa wurde
sofort als allégorie réelle auf die
Zustände im nachrevolutionären Frankreich bezogen.
Der Bericht lieferte aber auch den Impuls für eine der
imposantesten Bildfindungen der Moderne. Gaben die beiden Autoren den
politischen Missständen durch ihre Beschreibung des
Schiffbruchs eine Stimme, so gab der Maler Théodore
Géricault (1791-1824) ihm mit seinem gleichnamigen
Monumentalgemälde ein Gesicht. In seinem Essay geht
Jörg Trempler auf die Beziehung zwischen Textquelle und
Bildgestalt ein. Er kommt über die Rezeptionsgeschichte des
Gemäldes auf aktuelle Fragen zur Bildpolitik zu sprechen und
zieht eine Parallele zur heutigen Bildberichterstattung. (Matthes
& Seitz)
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