sOta Filip: "Café Slavia"
Ein
Kaffeehaus und ein Stammgast im Wandel bewegter Jahrzehnte: die
Lebensgeschichte eines seltsamen Prager Adeligen
Ein Besuch im Prager "Café Slavia" zählt wohl zum
Pflichtprogramm für Touristen, doch hat das restaurierte und
inzwischen an ausländische Betreiber verpachtete Kaffeehaus
gegenüber vergangenen Zeiten an Flair und Substanz
eingebüßt. Dennoch: Die prachtvolle Aussicht auf die
Moldau und das gegenüberliegende Ufer sowie das erhalten
gebliebene von Viktor Olivas geschaffene Jugendstilgemälde
"Piják absintu" ("Der Absinthtrinker") lassen den alten
Glanz auch heute noch erahnen, und eine Prise des besonderen Zaubers
ist trotz aller Veränderungen spürbar, wenngleich man
einen Ober wie Herrn Alois, den Ota Filip in seinem Roman
"Café Slavia" prominent auftreten lässt, wohl
vergeblich sucht.
Ota Filip wurde am 9. März 1930 in Ostrava (Mährisch
Ostrau) geboren und studierte in Prag Journalistik. Aufgrund seines
politischen Engagements wurde er mit Publikationsverbot belegt. In den
Jahren zwischen 1960 und 1968 wurde er mehrfach zu Haft und
Zwangsarbeit verurteilt. Im Jahr 1974 emigrierte er mit seiner Familie
in die Bundesrepublik Deutschland und begann, als freier Schriftsteller
und Verlagslektor in München zu arbeiten. Seit 1977 ist er
deutscher Staatsbürger, seit 1995 lebt er in Oberbayern. Anno
1986 erhielt er den "Adelbert-von-Chamisso-Preis". Der auch auf Deutsch
schreibende Autor ist Mitglied der "Bayerischen Akademie der
Schönen Künste", des deutschen "P.E.N.-Zentrums" in
Darmstadt und des Tschechischen Schriftstellerverbandes.
Mit einem Teil seiner Lebensgeschichte setzte sich der Autor im
autobiografischen Roman "Der siebente Lebenslauf", im Jahr 2001 bei
"Herbig" erschienen, auseinander. Der Klappentext lautet: "Der
tragische Impuls für die Niederschrift dieser Romanbiografie
war der Selbstmord von Ota Filips Sohn Pavel. Er wurde, so vermutet
man, durch manipulierte Wahrheiten und Halbwahrheiten
ausgelöst, auf Grund von echten, aber auch zweifelhaften, in
der Prager Unterwelt gekauften Dokumenten, die zu einer Pressekampagne
führten, in der Ota Filip der Mitarbeit für die
tschechoslowakische Staatssicherheit bezichtigt wurde. Auf der
Grundlage seiner Akten im tschechischen Innenministerium gibt Filip
hier im Rückblick auf die Jahre 1939 bis 1953 eine Darstellung
seines 'siebenten Lebenslaufs', wie ihn der Oberst František
Fic 1951 bis 1953 verfasste."
Im Jahr 2012 erhielt der Autor vom damaligen tschechischen
Präsidenten Václav Klaus die Verdienstmedaille
für "Verdienste am Staat im Bereich der Kunst".
Tragische, irrwitzige und fantasievolle Prager Geschichte(n)
Graf Nikolaus Belecredos, "der letzte seines Geschlechts in
Prag, Meister im Maskenanlegen", spricht einen
misanthropischen namenlos bleibenden Schriftsteller an und
nötigt ihm zunächst mehr oder weniger seine bewegte
und bewegende Lebensgeschichte auf, bis der unfreiwillige Ohrenzeuge in
Anbetracht der schier unglaublichen Erzählungen doch Feuer
fängt und im Rahmen einer langjährigen
Spaziergängerbekanntschaft auf der Karlsbrücke
sämtliche Details aus der Biografie eines Menschen, der die
Habsburger Monarchie, die Erste Tschechoslowakische Republik, zwei
Diktaturen und den "Prager Frühling" in Prag erlebt hat,
erfährt:
"Da ich von meiner Bekanntschaft mit Nikolaus Graf Belecredos zu
erzählen beginne, fühle ich mich dazu verpflichtet,
gleich zu Beginn zwei Dinge, die diese Beziehung ins richtige Licht
rücken, zu erklären: Zwanzig Jahre lang bin ich fast
täglich auf der Karlsbrücke Graf Belecredos begegnet,
habe ihn jedoch nicht wahrgenommen. Als er mich dann eines Tages
ansprach, fühlte ich mich zuerst gestört, ja
gekränkt, denn schließlich habe ich meinen langen
Umweg nicht deshalb gewählt, um von einem wildfremden Menschen
vor der Statue des Brückenheiligen Jan Nepomuk aufgehalten und
angesprochen zu werden." (S. 8)
Der niemals lachende Graf ist seit frühester Jugend ein wahrer
Verwandlungskünstler, der stets in wechselnden Masken und
Kostümen auftritt, über viele Jahre hinweg beinahe
wahllos Damen mit dem legendären Satz "Wollen Sie
meinen Samen empfangen?" anspricht, und zahllose
außereheliche Nachkommen, deren teils bemerkenswerte
Schicksale auf den diversen Bühnen der Prager Geschichte
ebenfalls beleuchtet werden, zeugt. Man erfährt von Nikolaus'
kränklicher Kindheit, seinen besonderen Sinneswahrnehmungen,
der womöglich russischen Fürstin Mischkina als
prägender Gouvernante, von den auf bizarre Weise umgekommenen
Vorfahren, von denen viele im Keller des Palais eingemauert sind. Ein
verzauberter Pflasterstein, Zeiten in völliger
Sonnenabstinenz, der unverhoffte Therapieerfolg von Freuds
buckligem Assistenten, Dr. Mosche Finkelstein, seines Zeichens
Anarchist und Kommunist, ein bizarres Metamorphosewunder, Mischkinas
Schwangerschaft, vergebliche Rasurversuche und künstliche
Bärte, konspirative Treffen mit Lenin in der Wohnung der
Finkelsteins in der Fleischergasse 14 - und schon ist man mitten in der
abenteuerlichen Welt des Grafen, von der hier nicht allzu viel verraten
werden soll, gelandet!
Es lohnt sich, seinen kunstvoll gewundenen Erzählpfaden, die
gleichermaßen zu Höhen und Tiefen, in die Irre und
zurück führen, zu folgen.
Ein Prolog, zweiundachtzig Geschichten voller origineller
Einfälle, ein Epilog sowie ein zweieinhalbseitiges
Personenregister, das dabei hilft, den Überblick zu bewahren,
ergeben insgesamt eine geballte Ladung nationaler Zeitgeschichte,
lesefreundlich präsentiert. Zwar wird kein rundum
sympathischer Protagonist geboten, jedoch verleihen anschauliche
Szenerien und realistisch bis skurril gezeichnete Figuren, deren
Erlebnisse einmal unterhaltsam, dann wieder entsetzlich anmuten, dem
Roman einen ganz speziellen Reiz, und die zahlreichen Kinder des Grafen
erlangen im Lauf der Zeit zunehmend Bedeutung, bis man meint, fast ganz
Prag sei von unehelichen Nachkommen des Grafen bevölkert ...
Im übertragenen Sinn steht das "Café Slavia"
meistens wie ein Fels in der Brandung der privaten und politischen
Sturmfluten, es ist des Grafen Anlaufstelle zur Mittagszeit, und der
Kellner Alois steht dem vom Schicksal mehr als einmal schlimm
gebeutelten Grafen (schließlich gilt es, die zahlreichen
Sprösslinge und deren Mütter möglichst gut
versorgt unterzubringen, und das Jahrhundert meint es mit Fortdauer
wahrlich nicht gut mit Adeligen), trotz aller Standesunterschiede und
keineswegs immer uneigennützig, treu zur Seite, serviert ihm
an seinem Stammtisch Kognac, Kaffee und Mineralwasser. Sind die Zeiten
besonders schlimm, setzt er sich zu ihm, und eines Tages rettet er ihm
sogar das Leben.
Graf Belecredos' Schilderungen außergewöhnlicher
Sinneswahrnehmungen von Jahres- und Tageszeiten sowie Wetterlagen in
allen Nuancen, seine jeweils mit Bedacht ausgewählte Maskerade
des Tages, seine Hellsichtigkeit bezüglich der Zukunft seiner
Nachkommenschaft und die einprägsamen Darstellungen der
stattgefundenen gesellschaftlichen Veränderungen über
die Jahrzehnte weben ein engmaschiges Netz, das auch den Leser in die
Geschichte verstrickt.
Das Leben und einen halbwegs klaren Kopf zu behalten, erweist sich in
schwierigen Zeiten als furchtbar komplizierte Aufgabe. Manche
Romanfiguren verlieren im Trubel der Ereignisse prompt den Verstand,
einige kommen im Zuge kriegerischer bzw. politischer
Auseinandersetzungen ums Leben. Verräter und Opportunisten,
Machtmenschen, Mitläufer und
Überlebenskünstler, ein ewiger Fischer in seinem Boot
auf der Moldau, unzählige vom Grafen geschwängerte
Frauen und die vielen Kinder - sie alle finden Platz in Ota Filips
"Café Slavia", worin ein Großteil des zwanzigsten
Jahrhunderts in Prag anhand der Schicksale kurioser Romanfiguren, allen
voran Nikolaus Graf Belecredos, abgebildet wird.
(S. Gabriel; 09/2017)
Ota
Filip: "Café Slavia"
(Titel der tschechischen Ausgabe: "Kavárna Slavia")
Herbig, 2001. 271 Seiten.
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Ota Filip starb am 2. März 2018 in Garmisch-Partenkirchen.
Netzpräsenzen:
Ota
Filip ...
"Café
Slavia" in Prag ...
Ein weiteres Buch des Autors:
"Der siebente Lebenslauf"
(Herbig)
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Weitere
Buchtipps:
Hartmut Binder: "Prag. Literarische Spaziergänge durch die
Goldene Stadt"
Hinweise zur Benutzung. Erster Spaziergang: Auf
den
Spuren von Kafkas "Beschreibung eines Kampfes".
Über Karlsbrücke und Kleinseite auf den Laurenziberg.
Zweiter Spaziergang: Die gehemnisvolle Stadt Meyrinks.
Über
die Kleinseite zum Hradschin.
Dritter Spaziergang: In Kafkas Lebenskreis. Durch Altstadt und
Juden-Ghetto.
Vierter Spaziergang: Werfel und seine Welt. Durch das
Stadtparkviertel.
Fünfter Spaziergang: Beim braven Soldaten Schwejk.
Über die Sofieninsel durch die Obere Neustadt.
Sechster Spaziergang: Ort des Gedenkens und der Entsagung. Auf dem
Wischehrad.
Register Prager Örtlichkeiten, Städteregister,
Namensregister, Werkregister, Literaturnachweise, Aussprache
tschechischer Laute, Quellennachweis. (Vitalis)
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Hartmut
Binder:
"Gestern abend im Café. Prager Kaffeehäuser und
Vergnügungsstätten in historischen Bilddokumenten"
Der opulent ausgestattete Band entführt den Leser in die
versunkene Welt der alten Kaiserstadt an der Moldau:
Er verarbeitet über tausend historische Fotografien und
zahlreiche unbekannte Schriftzeugnisse zu einem faszinierenden Bild
der
Prager Kaffeehäuser, Restaurants,
Varietébühnen und Nachtlokale in den letzten Jahren
der Donaumonarchie
und in der Zwischenkriegszeit.
Hartmut Binder hat wieder zugeschlagen und soviel ist gewiss: was der
Altmeister einmal erbeutet, das nimmt so schnell keiner mehr ins
Visier. Das schon vor Jahren begehrlich umkreiste Thema der Prager
Vergnügungsstätten der Kafkazeit ist ums Mehrfache
angeschwollen zum wahrhaft fulminanten Handbuch einer einst
blühenden Alltagskultur. Binders Werk lässt das
bisher Gebotene zu Makulatur werden: Auf mehr als eintausend Seiten
dokumentiert sein "Gestern abend im Café" die Prager
Etablissements, die vor gut hundert Jahren und mehr noch den
atmosphärischen Hintergrund zu Kafkas einzigartigem Genius
Loci bildeten. Dabei geht es ihm nicht nur um die rund hundert
Kaffeehäuser an der Moldau, darunter solche, die Orchester zur
Unterhaltung ihrer Gäste engagiert hatten, sondern auch um die
Restaurants, in deren Räumlichkeiten teilweise
Kleinkunstbühnen installiert waren, weiters die kleinen
Theater, Tingeltangel, Kabaretts und Tanzbars, die schillernde Szene
der Nachtclubs, das gerade aufkommende Kino und natürlich die
damals international renommierten Prager Varietés. Aus den
Erinnerungen der Zeitgenossen, aus Zeitungsannoncen sowie mehr als
tausend historischen, vielfach farbigen und meist unbekannten
Abbildungen entsteht ein Stadtporträt von geradezu exotischem
Reiz. Dazu gehören auch die heute vollständig
vergessenen Bühnenkünstler und Artisten, die in der
Mehrheit als Künstlerinnen mit ihren Reizen und
Glanzstücken das Publikum zu begeistern wussten.
Gewiss ist dem heutigen Betrachter auch die Erkundung vor Ort
möglich, denn die Gebäude haben sich vielfach
erhalten, und der Autor hat auf die Lokalisierung der behandelten
Einrichtungen besonderen Wert gelegt. Zuweilen existieren auch noch
die
Lokale selbst oder wurden unter ihrem alten Namen am authentischen Ort
wiedereröffnet - wie etwa das "Louvre", das "Slavia", das
"Grand Café Orient". Viel poetischer ist freilich Binders
Welt in Sepia. Sein Zauberschlüssel entriegelt die
Tür in eine lange verschlossene Kammer und weckt sanft die
Schönen auf dem verstaubten Plüsch. Und wenn er zu
erzählen beginnt, da sehen wir die Schönen sich im
Takt der Musik wiegen, wie gestern abend im Café ...
(Vitalis)
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Paul
Leppin: "Severins
Gang in die Finsternis. Ein Prager Gespensterroman"
"Ihre Straßen führten in die Irre, und das
Unheil lauerte auf den Schwellen." So beschrieb der Prager
deutsche Schriftsteller Paul Leppin (1878-1945) seine Heimatstadt.
Dieser Eindruck spiegelt sich auch in seinem wohl besten Werk, dem
hier
vorliegenden "Prager Gespensterroman" von 1914, in dem uns der Autor
in
ein Labyrinth voller Dunkelheit und Laszivität
entführt. Von der Sucht nach Leidenschaften und Exzessen durch
die Straßen getrieben, wird der Held Severin zum Opfer seiner
eigenen Sinnlichkeit ... (Vitalis) zur
Rezension
...
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