Stefan Ferdinand Etgeton: "Das Glück meines Bruders"
Bruderliebe
"Das Glück meines Bruders" ist nach "rucksack-kometen" der
zweite Roman von Stefan Ferdinand Etgeton. Waren es in
"rucksack-kometen" zwei Taugenichtse, die auf der Suche nach dem Sinn
des Lebens quer durch Südosteuropa trampen,
stehen hier zwei Brüder im Mittelpunkt des Geschehens.
Botho und Arno reisen ins belgische Doel, jenes Dorf, in dem ihre
Großeltern lebten und in dem sie früher ihre Sommer
verbrachten. Es wird ihre letzte Reise nach Doel sein, denn das
längst leerstehende Haus soll demnächst abgerissen
werden. Mit auf dieser Spritztour ist auch Arnos zukünftige
Frau Anja.
In dem kleinen Dorf leben Erinnerungen auf, an Sommerferien,
Weihnachtsfeste, schöne Zeiten und Missgeschicke, und
natürlich auch an die erste große Liebe.
Verdrängtes wird an die Oberfläche der Wahrnehmung
gespült, und Verdrängtes drängt sich
plötzlich wieder auf. Vor allem bei Botho, der nun, viele
Jahre danach, wissen will, wieso das mit Lenie damals schiefgegangen
ist.
"Alles beginnt im Grunde mit einem Haus, also der wichtigste
Teil der Story beginnt mit dem Haus, und es stand schon länger
leer, und wir hatten auch gar nicht vorgehabt, da noch mal
hinzufahren,
weil es auch genauso gut hätte sofort abgerissen werden
können, weil neun von zehn Häusern leer standen
damals in der Straße und in ganz Doel. Eigentlich war das
Leben fast gänzlich gewichen aus diesem Ort, und ob es ihn
heute überhaupt noch gibt, das sage ich noch ..."
Mit diesen Worten beginnt der Roman. Der Leser wird ins leerstehende
Haus mitgenommen und erfährt bald, wie es sich die beiden
Brüder und Anja hier gemütlich machen, wie sie sich
an diverse Ereignisse erinnern, wie sie das nun fast zur Gänze
leerstehende Dorf wahrnehmen und sich im Geisterdorf zurechtfinden.
Erzählt wird das Ganze von Botho, der in einem schnodderigen,
flapsigen Erzählton, hin- und herpendelnd erzählt.
Das soll schmissig, unterhaltsam und furios sein, wenn man dem
Klappentext trauen darf. Botho ist Lehrer, gekündigt
allerdings, weil er mit der türkischen Verlobten seines
türkischstämmigen Direktors eine kurze
Affäre hatte. Warum die Herkunft wichtig ist? Weil sie Botho
ebenfalls wichtig ist, das hat schon was, wie er irgendwo in der Mitte
des Romans einmal meint. Der Wille zum Seitensprung zeigt ihm
jedenfalls, dass sie eine starke türkische Frau ist, die sich
gegen Konventionen auflehnt. Eh klar, Botho kennt sich aus.
Bothos größtes Problem aber scheint Lenie zu sein.
Also, zumindest ihr Fehlen, das bisher nicht präsent war, aber
jetzt, in Doel, tja, da flammt das wieder auf. Vielleicht auch deshalb,
weil Arno ja mit seiner zukünftigen Frau da ist, und Botho
allein. Zuerst fährt er einmal nach Amsterdam, kommt aber dann
unverrichteter Dinge wieder zurück. Dann ist Arno weg, und
Anja hilft Botho bei der Suche nach Lenie.
Nun ist es schon so, dass die Konstruktion, wie Anja mit Botho allein
bleibt und Arno weg ist, etwas wackelig wirkt. Doch was soll's, wir
haben es mit einem Werk der Fiktion zu tun, da soll man nicht zu
pingelig sein. Jedenfalls hilft Anja Botho, Lenie zu finden, die nun in
Brüssel lebt. Sie reisen gemeinsam hin, verbringen nett Zeit
miteinander, Botho trifft Lenie, die inzwischen ein Kind hat, und
irgendwie war es das dann auch schon. Natürlich wird ein wenig
aufgedeckt, weshalb und wieso. Das war es dann aber. Und bevor Anja und
Botho zurückkehren, passiert das, was nicht passieren sollte,
was man als Leser irgendwie schon lange ahnt. Eine Vorahnung, die eher
so ein "nein, bitte lass das nicht passieren" ist.
"'Ich bin gerade in Brüssel und heute Morgen hab ich
Lenie getroffen und das war aber nichts, keine Ahnung, also ich
weiß überhaupt nicht mehr, was passiert ist, aber um
Anja musst du dir keine Sorgen machen, sie ist hier. Anja ist hier und
war die ganze Zeit bei mir, also erst in Bochum und jetzt in
Brüssel, die ganze letzte Woche, weil sie plötzlich
überhaupt keine Lust mehr auf Strand hatte, und dann habe ich
gesagt, wenn sie will, kann sie bei mir schlafen, und wir haben ein
bisschen geredet und ich kenn die ganze Story, dass sie noch mal kurz
Ruhe haben wollte, und ich weiß, sie will dich heiraten, ich
bin mir ganz sicher, weil sie das eben noch gesagt hat, sie liegt
nämlich gerade neben mir!", und dann habe ich kurz
gezögert, redete schließlich aber weiter:
'Allerdings hatten wir gerade auch Sex. Anja und ich - ich hab mit
deiner Freundin gevögelt. Tut mir echt leid ...'"
Interessanterweise kommt es aber zu keiner Explosion, die Katharsis ist
sanft und erfüllt die reinigende Funktion, die sie in der
griechischen Tragödie hat. Botho wird trotzdem zur Hochzeit
eingeladen, vergeben und verziehen, nicht vergessen, und am Ende ist
Botho in Spanien, wo er mit der einen oder anderen Touristin Sex hat
und einen Lebenswandel führt, der relativ ungeregelt ist. Arno
besucht Botho, die beiden Brüder klären ihre Rollen
und Beziehung, passt.
"Das Glück meines Bruders" ist ein Roman, der einerseits daran
leidet, dass das, was den Kern des Romans ausmacht, also die
Motivation, das Erzählte, die Schlüsse und die
Erkenntnisse, prinzipiell nicht überzeugt oder auch nur
geringfügig fesselt. Zumindest diesen Rezensenten. Vielleicht
sind die Sorgen und Gedanken der Protagonisten einem blutjungen
Lesepublikum zugänglicher, das mag schon sein.
Nichtsdestotrotz bleibt alles an der Oberfläche, das
Innenleben der Protagonisten seltsam unangetastet. Das andere Problem,
bzw. das damit verbundene Problem, ist die Erzählweise, die
als Hörbuch (der Verlag liefert auch eine CD mit, auf der
Stefan Ferdinand Etgeton selbst eine ca.
dreißigminütige Kurzfassung des Romans liest) viel
besser funktioniert, als in Buchform. So liest sich die Prosa leider zu
flapsig, zu sehr bedacht darauf, lässig oder unterhaltend zu
sein, vor allem in den Dialogen.
(Roland Freisitzer; 07/2017)
Stefan
Ferdinand Etgeton: "Das Glück meines Bruders"
C.H. Beck, 2017. 240 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de
bestellen
Stefan
Ferdinand Etgeton lebt in
Berlin. Er studierte Volkswirtschaftslehre in
Köln, Warschau,
Utrecht und Berlin. 2013 erhielt er den
"Evangelischen Literaturpreis", beim
"MDRLiteraturwettbewerb" 2014 gewann er den Jury- und den
Publikumspreis und bei der "Wuppertaler Literatur Biennale" 2016
erhielt er den Hauptpreis. 2015 erschien sein erster Roman
"rucksack-kometen" bei C.H.Beck.