Marianna D. Birnbaum: "Die Flucht der Jahre"


"Man musste es, übertrieben ausgedrückt, nur mit minus eins multiplizieren. (Ein für einen einstigen Mathematikstudenten unwürdiger Satz.)" Péter Esterházy

Die ungarisch-us-amerikanische Literatur- und Kulturhistorikerin Marianna D. Birnbaum führte das in "Die Flucht der Jahre" aufgezeichnete Gespräch bzw. die schriftliche Korrespondenz mit Péter Esterházy, dem Meister der ebenso kunst- wie lustvoll ausufernden und verästelten Geschichten und spielerisch hakenschlagenden Gedanken, noch vor der Diagnose.
Im Herbst 2015 machte nämlich der am 14. April 1950 geborene Péter Graf Esterházy de Galántha seine Bauchspeicheldrüsenkrebserkrankung publik und unterzog sich einer Chemotherapie. Mit seiner Krankheit setzte sich Péter Esterházy in seinem letzten Werk "Hasnyálmirigynapló", im März 2017 auf Deutsch in der Übersetzung von György Buda unter dem Titel "Bauchspeicheldrüsentagebuch" erschienen, auseinander.
Am 14. Juli 2016 erlag er diesem Leiden im Alter von 66 Jahren. Er wurde am 2. August 2016 in der Familiengruft im ungarischen Ganna beigesetzt.

Péter Esterházy galt neben dem ebenfalls im Jahr 2016 verstorbenen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész und Péter Nádas als bedeutendster ungarischer Autor der Gegenwart. Seit dem Jahr 1978 war der mehr oder weniger unfreiwillig studierte Mathematiker, der zuvor als Informatiker gearbeitet hatte, freier Schriftsteller und als solcher ein komödiantisch veranlagtes, fantasievolles Genie.

Im Jahr 1999 erhielt Péter Esterházy, der oft als "postmodern" titulierte Satz- und Sinnakrobat mit der charakteristischen weißen Wallemähne, den "Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur" (Jochen Jung hielt damals die Laudatio), anno 2004 in der Frankfurter Paulskirche den mit fünfzehntausend Euro dotierten "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels" für sein opus magnum: "In 'Harmonia Cælestis' und der zugehörigen 'Verbesserten Ausgabe' hat er die Last der Wahrheit auf sich genommen, die Verstrickungen und die prototypische Schuld der Menschen des geschichtsmächtigen alten Kontinents in gedächtnisfähige Bilder und Gestalten verwandelt. Sein Mut zum offenen Bekenntnis und zur poetisch-heiteren Beschreibung der Tragödie setzt der europäischen Depression einen Kontrapunkt", führte die Jury unter Anderem in ihrer Begründung aus. Die Lobrede hielt Michael Naumann.

Auskunftsfreudig, sprachverliebt, charmant, zitierlustig und humorvoll, wie man ihn in der Öffentlichkeit kannte und schätzte, beantwortete Péter Esterházy die einmal sehr direkten, dann wieder recht allgemein formulierten Fragen Marianna D. Birnbaums (z.B. "Welche Erinnerung kommt Ihnen als Erstes an Ihre Eltern in den Sinn, wenn Sie sich danach fragen?", "Welches Ihrer Kinder hat die größte Phantasie?"), sodass sich ein buntes Selbstporträt ergibt.
Der begnadete Schriftsteller Péter Esterházy erzählte also aus der illustren Familiengeschichte, befasste sich mit Gott (und naturgemäß der Welt), Fußball, Politik und Europa, plauderte/schrieb selbstverständlich auch über sein Werk und seine vielschichtige Arbeitsweise, und stellenweise meint man eine gewisse Enttäuschung angesichts der bisweilen allzu banalen Fragestellungen aus seinen Zeilen herauszulesen. Doch Péter Esterházy, der keineswegs nur notfalls spielerisch zu Höchstform auflaufende Alleinunterhalter, parierte gekonnt jede auch nur im Ansatz langweilige Anfechtung und verfügte über etliche Trümpfe und Kniffe, auch noch die blassesten Fragen routiniert und umfassend bis ausschweifend zu beantworten und solcherart dem gesamten Projekt den typischen Esterházyglanz zu verleihen!

Mit Péter Esterházy verlor die Literaturwelt im übertragenen Sinn eine sprudelnde Quelle intelligenten Wortwitzes. Seine literarische Hinterlassenschaft vermag die Leser weiterhin mit heiterer Ironie, manchmal derber, überwiegend jedoch ausgewählt kluger Wortwahl, sprachlicher Präzision, kritischer Geisteshaltung und noch vielem mehr zu beglücken.
In "Die Flucht der Jahre" lieferte Péter Esterházy einmal mehr eine geballte Ladung an interessanten Details und Hintergrundinformationen, die man sich als Connaisseur keinesfalls entgehen lassen sollte.

(kre; 03/2017)


Marianna D. Birnbaum: "Die Flucht der Jahre"
(Originaltitel "Az évek iszkolása")
Übersetzt von Laszlo Kornitzer.
Hanser Berlin, 2017. 160 Seiten.
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