Péter Esterházy: "Bauchspeicheldrüsentagebuch"
Der
bewegende Abschied eines Großen
"Es fällt mir schwer zu glauben, dass es um mich
geht, sage ich ihr. Mir auch, sagt sie." (S. 12)
Im Mai des Jahres 2015 erhielt der ungarische Schriftsteller
Péter Esterházy die fatale Diagnose:
Bauchspeicheldrüsenkrebs mit Metastasen in der Leber. Das
Pankreaskarzinom ist ein sehr aggressiver Tumor, bis heute ist kein
therapeutischer Durchbruch gelungen.
Im selben Jahr wie Péter Esterházy starben u.A.
auch der Schauspieler Alan Rickman und der Popmusiker David Bowie an
der heimtückischen Krankheit.
Ähnlich wie in "Verbesserte Ausgabe" steht der betroffene
Mensch im Fokus des eigenen Blicks. Bis zum Ende zu arbeiten, zu
schreiben, lautete seine Devise, nach Möglichkeit
tändelnd und tänzelnd, liebgewonnene Gewohnheiten
beizubehalten und zusätzlich von der Erkrankung diktierte
Maßnahmen und Befindlichkeiten zu schildern. Dies
stellenweise in bezeichnend frivoler bzw. pornografischer Sprache (z.B.
"Ich fick dich in den Arsch, als gäbe es kein Morgen."
S. 53), überwiegend jedoch in gewählter
Ausdrucksweise.
"Es ist nicht leicht, der Wirklichkeit nahezukommen, nicht
einmal der eigenen." (S. 39)
Für den Autor gänzlich untypisch, sah sich
Péter Esterházy unverzüglich von den
äußeren und inneren Umständen zur
Einhaltung einer linearen Chronologie gezwungen. Während er in
seiner "Verbesserten Ausgabe" dieser vorgegebenen Struktur noch
geistreiche Abschweifungen und humoristische Ausflüchte zuhauf
entgegensetzt, manchmal gar abtrotzt, bestimmen im
"Bauchspeicheldrüsentagebuch" mit Fortschreiten der Erkrankung
der Krebs sowie die Therapien Tempo und Marschrichtung.
Allerdings ist wohl davon auszugehen, dass es sich um kein
vollständiges Tagebuch handelt, also manches ausgespart,
gestrichen und verschwiegen worden ist.
Es geht einem beim Lesen sehr nahe, wie
Péter Esterházy von immer in Eile befindlichen
wortkargen Ärzten und seinen Erlebnissen im Spital,
Gesprächen mit anderen Patienten, von Reaktionen
Familienangehöriger, Bekannter und Fremder auf die Diagnose
berichtet, von schmerzhaften Untersuchungen, einer Unzahl an
Medikamenten und zunehmenden Beeinträchtigungen des Befindens,
von Haarausfall und Durchfall, von stundenlangen Infusionen,
Bestrahlungen, massivem Gewichtsverlust, von seltsam beschleunigter
Zeit und Dauermüdigkeit schreibt.
Zu Beginn sucht Péter Esterházy in
bewährter Manier den Ernst der Lage womöglich
umzudeuten und die ernüchternde Wahrheit möglichst
lange beiseitezuschieben, notiert wie besessen weiterhin
Einfälle und Gedankenspiele, doch die Krankheit schreitet
voran, die Einträge werden kürzer und mitunter auch
seltener.
Angenehme Zusammenkünfte mit seinen Brüdern, Kindern
und Enkeln, Ausflüge und üppige Mahlzeiten fanden
ebenso Eingang in seine Aufzeichnungen wie intime Zwiesprachen mit
seiner Krankheit, die er z.B. als "inneres Fräulein",
"Bauchspeichelchen" (oder später nur noch "B.")
und (zu den erotischen Ausführungen passend) "Mutzi"
bezeichnet, und Lektüreeindrücke (z.B. "Die
Geschichte meines Todes" von Harold Brodkey und immer wieder Kosztolányi).
Die alte Fabuliergröße voller lüsterner
Kleingrobheiten und fantasievoller Motive zeigt sich noch einmal in
Péter Esterházys Ausführungen
über die "Kovalent-Legende".
In weiterer Folge sind unter Anderem der Wechsel des Spitals und der
behandelnden Ärzte, Gereiztheit, das wachsende Chaos,
verbunden mit häufigem Suchen nach irgendetwas, die
Wahrnehmung der zunehmenden Stumpfheit, das große
Schlafbedürfnis, aber auch köstliche Weine,
gesellschaftliche Ereignisse, Vorfälle aus der Tagespolitik,
die Auseinandersetzung mit Gott, der Schöpfung und dem
menschlichen Schicksal Thema.
Besonders zu erwähnen ist die kongeniale Übertragung
ins Deutsche durch den preisgekrönten Übersetzer
György
Buda (geboren 1945).
Leider wurde das "Bauchspeicheldrüsentagebuch" weder mit einem
würdigenden Vorwort noch einem Nachwort ausgestattet, was
angesichts der Bedeutung
Péter Esterházys für die Literaturwelt
ein unbegreifliches Versäumnis darstellt.
Die letzte Eintragung stammt vom 2. März 2016, am 14. Juli
2016 starb Péter Esterházy im Alter von 66 Jahren
in
Budapest.
Das mit dem Satz "Krebs, das ist das richtige Anfangswort,
wenngleich es nicht sofort fiel, gar nicht so bald, wobei ich nicht
denke, die Ärzte hätten das Wort gemieden."
eröffnete "Bauchspeicheldrüsentagebuch" ist seine
bewegende Abschiedsvorstellung. Der Schluss klingt noch lange nach: "Jetzt
werde
ich nie mehr allein sein. B. wird immer mit mir sein. Ich
verbessere das Immer in Ewig. (...) Jetzt beginne ich, das Bisherige
in
die Maschine zu schreiben. Irgendwo muss ich es abschließen
und natürlich weiterschreiben. Das wäre ein
hinreichend guter letzter Satz: Ich verbessere das Immer in Ewig."
Péter Esterházys
"Bauchspeicheldrüsentagebuch" ist in weiten Teilen
bedrückende Lektüre, wird doch der Leser quasi
Augenzeuge des Verfalls eines besonders wortgewandten, genussfreudigen
und lebensfrohen Menschen, der mittels seiner unbändigen
Kreativität anspruchsvolle Leichtigkeit und fantasievollen
Freiraum erschaffen und sich auch zugestanden hat, und letztlich mit
begreiflicherweise ungläubigem Staunen rasend schnell von der
unmittelbaren Wirklichkeit des Todes eingeholt wurde.
(kre; 03/2017)
Péter
Esterházy: "Bauchspeicheldrüsentagebuch"
(Originaltitel "Hasnyálmirigynapló")
Übersetzt von György Buda.
Hanser Berlin, 2017. 240 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
Weitere Buchtipps:
Péter Esterházy: "Harmonia Caelestis"
Péter Esterházys epochales Werk über die Geschichte (s)einer Familie.
Péter Esterházy ist der große Erneuerer der ungarischen Literatur, und
sein Familienroman wurde schon kurz nach Erscheinen in Ungarn als
"Nationalepos" begrüßt. Das Buch hat zwei Teile. Der erste Teil trägt
den Untertitel "Nummerierte Sätze aus dem Leben der Familie Esterházy"
und ist ein Textmosaik aus Einzelgeschichten, Mythen und Legenden. Der
zweite Teil "Die Bekenntnisse einer Familie Esterházy" erzählt die
Geschichte der Aristokratenfamilie im 19. und 20. Jahrhundert. Das
Historische ist dem Autor eine Goldgrube der Sprache und Bilderwelt, der
glorreichen und komischen Anekdoten. (Berlin Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen
Péter Esterházy:
"Verbesserte Ausgabe"
Im Jänner des Jahres 2000 entdeckte Péter
Esterházy die Agentenakte seines geliebten Vaters, dem er
mit seinem weltweit gefeierten Roman "Harmonia Cælestis" ein
literarisches Denkmal gesetzt hatte. In "Verbesserte Ausgabe" berichtet
er von dieser persönlichen Tragödie - ein
literarisches Dokument von einer zeitgeschichtlichen Bedeutung weit
über Ungarn hinaus.
"Ich wußte sofort, worum es sich handelte. Ich
konnte nicht glauben, was ich sah. Rasch legte ich meine Hand auf den
Tisch, weil sie zu zittern begann ... Als ich das Dossier
öffnete, hatte ich sofort die Handschrift meines Vaters
erkannt."
So beginnt "Verbesserte Ausgabe", so beginnt eine Tragödie,
deren Veröffentlichung in Ungarn große Betroffenheit
auslöste. Kurz vor Abschluss seiner "Harmonia
Cælestis" war Esterházys Antrag auf Akteneinsicht
beim "Amt für Geschichte" - dem ungarischen Pendant zur
"Gauck-Behörde" - bewilligt worden. Aber statt einer
Stasi-Akte über ihn und seine Familie werden ihm vier
vergilbte Agentendossiers vorgelegt, in denen er die Handschrift seines
Vaters Mátyás erkennt: unter dem Decknamen
"Csanádi" hatte dieser von 1957 bis 1980
regelmäßig als inoffizieller Mitarbeiter an die
ungarische Geheimpolizei berichtet. Für den Autor bricht eine
Welt zusammen - denn mit "Harmonia Cælestis", dem weltweit
gefeierten "Familienroman", hatte er seinem geliebten Vater ein
literarisches Denkmal errichtet. In "Verbesserte Ausgabe" macht
Esterházy zahlreiche Passagen aus den Berichten seines
Vaters an die berüchtigte "Abteilung III/III" der ungarischen
Stasi zugänglich. Neben die dokumentarischen Auszüge
treten Zitate aus "Harmonia Cælestis", deren "Wahrheit" er an
dem neuen Befund misst, und Tagebuchaufzeichnungen seit der Zeit der
Enthüllung - anrührende Notate voller Scham und
Schmerz, in denen er seinen Vater betrauert und bedauert, aber nie
freispricht von Schuld. (Berlin)
Buch
bei amazon.de bestellen
Harold
Brodkey: "Die Geschichte meines Todes"
Im Frühjahr 1993 wurde Harold Brodkey wegen einer schweren
Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert. Ein Bluttest
ergab die überraschende Diagnose:
Aids.
Die Nachricht erfüllte Brodkey mit Verzweiflung, doch zugleich
fühlte er sich seltsam klar, nüchtern, zu Scherzen
aufgelegt und nachgerade unanständig amüsiert
angesichts der Ironie, auf eine so hässliche Weise zu sterben.
Seine schauspielerische Intuition sagte ihm, er sei in dieser Rolle
falsch besetzt.
Doch langsam wurde ihm die schreckliche Wahrheit bewusst. Unmittelbar
nach seiner Entlassung aus der Klinik begann er zu protokollieren, wie
die tödliche Krankheit sein Leben veränderte, was sie
seinem Körper, seinem Geist, seiner Frau und seinen Freunden
antat. Diese Arbeit setzte er bis zu seinem Tod fort. Das so
entstandene Buch ist Tagebuch, Essay und autobiografische Erinnerung
und es ist in jeder Hinsicht ebenso freimütig und
luzide wie Brodkeys Romane. Brodkey spricht offen über das
Tabu Aids, über die gesellschaftliche Rolle der
Sexualität heute, aber auch über seine sexuelle
Ambivalenz, über seine erotischen Erfahrungen in der New
Yorker Künstlerszene und über die inzestuöse
Beziehung zu seinem Stiefvater. Und er zeigt, wie er zu dem Ruf kam,
ein "gesichtsloser Mensch", ein "Spiegel für die Anderen" zu
sein. Diese außergewöhnliche Fähigkeit
widerzuspiegeln, was er in der Seele anderer Menschen fand, zeichnet
sein Werk aus und tragischerweise führte ebendiese
Fähigkeit letztlich zu seiner Infektion mit dem Virus. (rororo)
Buch
bei amazon.de bestellen