Ingeborg Gleichauf: "Poesie und Gewalt"
Das Leben der Gudrun Ensslin
"Ich
will etwas getan haben dagegen."
Gudrun Ensslin, Ikone und Symbol des linken Terrorismus in der BRD der
1970er-Jahre, wer war sie? Sie war 1970 Gründungsmitglied der
RAF (Rote Armee Fraktion), die nach lateinamerikanischem Vorbild eine
Stadtguerilla konzipierte, den bewaffneten Kampf gegen den Kapitalismus
und Imperialismus ausrief und für Geiselnahmen,
Banküberfälle und Sprengstoffattentate mit
schließlich 33 Toten verantwortlich zeichnete. Zu
lebenslanger Haft verurteilt, beging Gudrun Ensslin 1977 Selbstmord,
nachdem ihre Freipressung gescheitert war. Sie wurde 37 Jahre alt. Wer
war diese Gudrun Ensslin, die uns auf ihrem bekanntesten Foto als
modische junge Frau mit blonden glatten Haaren und stark geschminkten
Augen entgegenlächelt? Pastorentochter, Intellektuelle,
hörige Geliebte, "Waffen- und Klamottenfetischistin",
wie sie Hans
Magnus
Enzensberger bezeichnete?
Ingeborg Gleichauf, Autorin mehrerer Biografien, hat sich zum Ziel
gesetzt, das Bild dieser Gudrun Ensslin von den Klischees zu befreien
und ihr ihre individuelle Persönlichkeit
zurückzugeben. Akribisch zeichnet sie ihre intellektuelle und
persönliche Entwicklung nach. Angefangen in ihrer Kindheit in
einem kleinen Dorf auf der Schwäbischen Alb, eingebettet in
eine vielköpfige Pastorenfamilie, ihr Leben als
Schülerin in einer Kleinstadt, ein Jahr Auslandsaufenthalt in
den USA, Studium der Germanistik in Tübingen. Sie wird als
blondbezopft, fröhlich und klug beschrieben, war eine gute
Schülerin und später eine exzellente Studentin. Alles
deutet auf ein erfolgreiches Leben hin. Die Weichen standen
für einen Berufsweg als Lehrerin, Wissenschaftlerin,
Verlegerin oder Schriftstellerin.
Ensslins Lebens- und Denkperspektiven entwickelten sich kontinuierlich,
erweiterten sich. Sie nutzte ihr Begabungspotenzial. Anfang der
1960er-Jahre ging sie nach Berlin, um dort ein Doktoratsstudium
über Hans
Henny Jahnn zu beginnen, der ihr die Kunst als
Möglichkeit zeigt, eine Veränderung der Menschen und
der Welt vorzubereiten. In ihrem neuen Leben in der
Großstadt, wo die 1968er-Studentenbewegung gerade ihren
Anfang nahm, lösten sich allmählich die alten
Denkstrukturen auf. Kirche und Religion sind keine bestimmenden
Begriffe mehr, an ihre Stelle treten Macht, Geist, Aufbruch, Utopie. Es
ist eine Phase des Ausprobierens, des Experimentierens, der Gedanken-
und Sprachspiele. Es gibt Auslandsaufenthalte, sie schreibt Gedichte,
führt eine Beziehung, verlobt sich, bekommt ein Kind,
fängt an, sich politisch zu engagieren. Es ist eine
für die Zeit typische Lebensform. Dann der Bruch, der
Aufbruch. Fort vom Verlobten, fort von der Kleinfamilie, fort vom
wissenschaftlichen Betrieb und irgendwie auch fort von der
Gesellschaft. Immer wieder versucht die Autorin, die Momente der
Politisierung und der Radikalisierung dingfest zu machen. Die
Anti-Schah-Demonstrationen und der Tod von Benno Ohnesorg? Die
Vietnam-Demonstrationen? Die Geburt ihres Sohnes? Wann war der Punkt
erreicht, wo sich die Notwendigkeit ausbreitet, von der Theorie in die
Praxis zu gehen? Das Kennenlernen von
Andreas
Baader? Es war jedenfalls in den Jahren 1967/68, dass die
Doktorarbeit unwichtig und die politische Aktion wichtig wurde.
"Ich will etwas getan haben dagegen",
erklärte Gudrun Ensslin in dem Prozess über die
Warenhausbrandstiftung in Frankfurt 1968. Ein Zeichen gegen die
kapitalistische Konsumwelt. Ulrike
Meinhof lieferte die Theorie dazu, dass es der
gesetzbrecherischen Tat bedarf, um ein Bewusstsein für Unrecht
in der Gesellschaft zu schaffen. Das Primat der Praxis wird zum
bewaffneten Kampf verklärt. Der Weg in den Terrorismus ist
eine schrittweise Entwicklung, wo Eins zum Nächsten
führt. Beim ersten Gefängnisaufenthalt ist noch die
Sorge um den kleinen Sohn zentral, später spielt er keine
Rolle mehr. Sie wird Persönlichkeitsteile abspalten, um Denken
und Handeln in Einklang bringen zu können. Stück
für Stück bricht sie die Brücken zu ihrer
Vergangenheit ab. Nach einem Aufenthalt in Jordanien und einer
Ausbildung zur Guerillakämpferin ist der Weg in die
Illegalität vorgezeichnet. Sie hat sich ein für
allemal von einem Leben mit Kind verabschiedet. Sie erklärt
der Gesellschaft, in der sie bisher lebte, den Krieg.
Studien auf der Grundlage der Lebensläufe der RAF-Terroristen
benennen die Entwicklung von Individuen zu terroristischem Handeln als
psychosozialen Prozess. Es handelt sich um einen Austausch des
soziokulturellen Bezugssystems, ein allmähliches
Herauslösen aus der Mehrheitskultur und die Integration in
eine politische Subkultur. Ein Prozess, aus dem ein Ausstieg auch
möglich ist. Für Ensslin allerdings nur durch den Tod.
Der Autorin ist es durchaus gelungen, Ensslin aus allen Klischees
herauszuschälen und als individuelle Persönlichkeit
wahrzunehmen und darzustellen, mit Widersprüchen und
Kontinuitäten, die aber eigenständig denkt und
handelt. Sie lässt sie mit ihrer eigenen Stimme sprechen, ohne
allerdings uns zu erreichen.
An einer Stelle schreibt Gleichauf: "Die Entwicklung Ensslins
zu einer gewaltbereiten Terroristin ist nicht folgerichtig. Es
existiert keine gerade Linie von hier nach dort. Am Beginn jeder neuen
Lebensphase stand ein Sprung." Sie war kein Monster, keine
Terroristin von Geburt an, nicht durch äußere
Umstände dazu getrieben. Sie war eine von uns, eine von
vielen, die für eine bessere Welt kämpfen wollten.
Aber warum ihr Lebenskonzept vom Du-sollst-nicht töten zu
Du-sollst-töten
kippte, bleibt unerklärbar. Es war
ihre persönliche Entscheidung.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 02/2017)
Ingeborg
Gleichauf: "Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun
Ensslin"
Klett-Cotta, 2017. 350 Seiten, mit Abbildungen.
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Michael Buback: "Der zweite Tod meines Vaters"
30 Jahre nach der Ermordung seines Vaters durch die RAF
erfährt Michael Buback, dass die offizielle Version des
Tathergangs und der Tatbeteiligten nicht stimmt - nicht stimmen kann.
Der Sohn des Generalbundesanwalts, der wie kein Zweiter im Glauben an
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Lawine los. (Knaur)
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Anne Ameri-Siemens: "Ein Tag im Herbst. Die RAF, der Staat und
der Fall Schleyer"
Die Tage des Deutschen Herbstes haben sich in das kollektive
Gedächtnis gebrannt. Anne Ameri-Siemens erzählt aus
verschiedensten Perspektiven, wie der Terror 1977 ein ganzes Land
durchdrang und dann, nach der Entführung Hanns Martin
Schleyers, die Bundesregierung unter Helmut
Schmidt vor die furchtbare
Alternative stellte: entweder Gefangene freizulassen oder den Tod der
Geisel in Kauf zu nehmen.
Anne Ameri-Siemens, eine der besten Kennerinnen der Zeit, hat
zahlreiche, höchst unterschiedliche Zeitzeugen befragt. Damals
politisch Verantwortliche kommen ebenso zu Wort wie Hanns-Eberhard
Schleyer; ehemalige RAF-Anwälte ebenso wie Angehörige
der Opfer, Polizisten und die Bewacher der RAF-Gefangenen in Stammheim.
Das Buch setzt jene Menschen, die berichten, in den Kontext ihrer Zeit,
lässt die Atmosphäre des Deutschen Herbstes in
einzigartiger Weise lebendig werden - Wochen, in denen Politiker im
Krisenstab auch extreme Lösungen zur Rettung Schleyers
diskutierten. Auf diese Weise erzählt "Ein Tag im Herbst" die
ganze Geschichte des Terrorjahres 1977, das einmalig war und geblieben
ist - und die Geschichte der Bundesrepublik bis heute
verändert hat. (Rowohlt Berlin)
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Butz
Peters: "1977.
RAF gegen Bundesrepublik"
1977 erreicht der Linksterrorismus in der Bundesrepublik eine bislang
unbekannte Dimension. Mit den Morden an "Dresdner-Bank"-Chef
Jürgen Ponto, Generalbundesanwalt Siegfried Buback und
Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer sowie der
Entführung des Passagierflugzeugs "Landshut" tritt eine
zweite, zu äußerster Brutalität
entschlossene Generation der "RAF" auf den Plan. Zugleich setzt mit
den
Selbstmorden von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe in
Stammheim die erste Generation einen die Republik
erschütternden Schlusspunkt. Butz Peters erzählt die
dramatischen Ereignisse des Schlüsseljahres 1977, in dem die
"RAF" die Machtfrage stellte, vor dem Hintergrund der Entstehung der
Terrororganisation und mit Blick auf die weiteren Anschläge
bis zur Selbstauflösung 1998. (Droemer)
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Nicole Welgen: "Brigate Rosse und Rote
Armee Fraktion. Genealogie und Narrative des 'Terrorismus' im
italienisch-deutschen Vergleich"
Jahrzehnte nachdem die Bundesrepublik Deutschland und in noch
größerem Ausmaß Italien ab Ende der
1960er-Jahre von Attentaten und Anschlägen
erschüttert wurden, bleiben sie in beiden Ländern
präsent. Wie für jeden einzelnen Betroffenen gilt es
auch für die Nationen, die Ereignisse in Narrative
einzuordnen, um sie aufarbeiten und in ihre Geschichte integrieren
zu
können. Im Rahmen der Studie werden, neben einigen der, im
Sinne der Genealogie nach Michel Foucault, unzähligen
Anfänge des "Terrorismus", mit Bürgerkrieg, Trauma,
Generations- und Familienkonflikt vier solcher Narrative
identifiziert
und analysiert, und mit ihnen die verschiedenen Stadien der
Auseinandersetzung mit den Ereignissen in beiden Ländern
beleuchtet, in der Gesellschaft im Allgemeinen und der Literatur im
Besonderen. Dass seit einigen Jahren wieder verstärkt Romane
erscheinen, die sich mit den Jahren des "Terrorismus" - da es sich
dabei um einen relativen Begriff handelt, wird er in einfache
Anführungszeichen gesetzt - befassen, kann als Zeichen
dafür gewertet werden, dass die Latenzzeit an ein Ende gelangt
ist, das kollektive Trauma, um Sigmund
Freuds Terminus zu benutzen,
inzwischen durchgearbeitet werden kann. (Königshausen
& Neumann)
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Alexander
Gallus (Hrsg.): "Meinhof, Mahler, Ensslin. Die Akten der
Studienstiftung des deutschen Volkes"
Ulrike Meinhof, Horst Mahler und Gudrun Ensslin waren nicht nur
Begründer der "Rote Armee Fraktion", sondern gehörten
auch zum exklusiven Stipendiatenkreis der "Studienstiftung des
deutschen Volkes". Bislang befanden sich die Förderakten - mit
ausführlichen Lebensläufen, genauen Semesterberichten
und aussagekräftigen Gutachten - unter Verschluss. Weder
Journalisten noch Wissenschaftler konnten diesen einmaligen
Quellenfundus nutzen. Nicht einmal dem Generalbundesanwalt wurde
Einsicht gewährt, als er zur Vorbereitung der
Terroristenprozesse in den 1970er-Jahren beim
größten und renommiertesten deutschen
Begabtenförderungswerk entsprechend nachsuchte. Die
Terroristen in nuce hätte er in den Dokumenten kaum gefunden.
Die hier erstmals veröffentlichten Studienstiftungsakten sind
gerade insofern ein beunruhigendes Zeugnis, als sie belegen, wie
schwer
nur im Terrorismus endende Biografien sich prognostizieren lassen.
Die
Unterlagen bieten mehr Anhaltspunkte für alternative
Lebensverläufe und bestätigen doch, wie wenig nur ein
hohes Maß an Intelligenz vor Radikalisierung und politisch
motivierter Gewaltanwendung schützt. Von den jeweiligen
"Gesamtpersönlichkeiten" ihrer Stipendiaten versprach sich die
"Studienstiftung" - wie es im zeitgenössischen Jargon
hieß - "hervorragende Leistungen im Dienste des Volksganzen".
Die hohen Erwartungen wurden in den Fällen Meinhof, Mahler und
Ensslin schwer enttäuscht. (Vandenhoeck & Ruprecht)
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