Frank Schirrmacher: "Die Stunde der Welt"
Fünf Dichter - ein Jahrhundert: George - Hofmannsthal - Rilke - Trakl - Benn"
Wie
zeitlos ist Lyrik?
Es ist der Vorwurf geläufig, dass die Geisteswissenschaft,
namentlich die Germanistik, darin besteht, aus sieben publizierten
Büchern ein achtes zu machen. Manche setzen die symbolischen
Zahlenwerte des Vorurteils sogar mit drei zu eins fest.
Frank Schirrmacher (1959-2014), Germanist, hoch geehrter Feuilletonist
und Journalist, war ein im deutschen Sprachraum anerkannter
Intellektueller und Vordenker (vgl. "Das Methusalem-Komplott", 2004,
über die Vergreisung der Gesellschaft; "Minimum", 2006,
über das Auflösen von Familien und sozialen
Beziehungen auf ein Minimum). Bis zu seinem Tod war er Mitherausgeber
der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Für das
"Methusalem-Komplott"
wurde er als Journalist des Jahres 2004
ausgezeichnet; die Würdigung zählte zu seinen
Qualitäten auch die gelungene Vermarktungsstrategie der
eigenen Person.
In diesem Textgemenge, dem biografischen und publizistischen Kontext,
legt dreizehn Jahre nach der Erstausgabe und drei Jahre nach
Schirrmachers Tod der Karl-Blessing-Verlag, der zur riesigen
Verlagsgruppe "Random House gehört", diese Essaysammlung zur
deutschen Literatur neu auf. Deren einzelne Texte waren zuvor bereits
im Feuilleton der "F.A.Z." erschienen. Wozu? Worin liegt der Mehrwert?
Die Antwort darauf versucht sich der Rezensent am Ende des Texts zu
geben.
Das Jahrhundert von 1901 bis 2000, an dessen Beginn die fünf
beschriebenen Autoren schon lebten und an dessen Ende die Erstausgabe
des Buches erschien, vollendet die Kolonisierung von Raum und Zeit. Was
mit freiem Auge sichtbar ist, ist bereits entdeckt und vermessen: "Am
Ende
des 20. Jahrhunderts müssen wir uns eingestehen, dass es
nicht nur einen Kolonialismus des Raumes, sondern auch einen der Zeit
gibt. Die Vorstellungswelt der Gegenwart ist von der Vergangenheit
besetzt und annektiert, ganze Kontinente der Phantasie und
Einbildungskraft sind von ihr ausgebeutet worden." (Seite
17) Die Aufbruchstimmung des Fin de Siècle kollidiert zur
Jugendzeit der zwischen 1868 (George)
und 1887 (Trakl)
Geborenen mit quasi unausweichlichen Konsequenzen und Resultaten; im
Zeitalter der Eisenbahn scheint alles auf Schiene: "(...) es
legt die Frage nahe, was nach all den Versuchen und Selbstversuchen
dem
Künstler heute noch zu sagen und zu tun übrig bleibt.
Seine Imagination ist von der Vorwelt annektiert." (Seite 25)
Benn,
gestorben 1956, hat als Einziger den Zweiten Weltkrieg
überlebt, Trakl nicht den Ersten. Die Biografien der
fünf Autoren, die alle - und im Fall von Hugo von
Hofmannsthal: auch - als Lyriker bekannt wurden, konnten dem
Furchtbaren ihrer Jahre nicht entkommen. Für Rainer
Maria
Rilke war die Schulzeit in Linz ein Wendepunkt im
Leben; wenige Jahre später hatten in derselben Stadt Adolf
Hitler und sein Schulkollege Ludwig Wittgenstein prägende
Erlebnisse in der K.k. Staats-Realschule. Wittgenstein war bis zuletzt
Förderer und Freund Georg Trakls; er wollte ihn noch vor
seinem Tod in Krakau besuchen, kam aber zu spät. Hitlers
Hauptpropagandist Joseph
Goebbels suchte in seiner Studienzeit den
Zugang zum Kreis um Stefan George. Dem gehörten unter Anderem
auch die drei Stauffenberg-Brüder an. Mit deren Mutter
wiederum stand Rainer Maria Rilke in Briefkontakt - und
tröstete während des Ersten Weltkrieges ihre Sorgen
um die Söhne: "Wer weiß, (...) ob nicht
die nächste Generation in eine von selbst gleich sehr
zukünftige Welt wird hineinwachsen dürfen,"
(Seite 108) ist seine vage Antwort, deren Zukunftshoffnung nicht
überzeugt.
Diese teils anekdotenhaften, teils aufschlussreichen
Lebensverschränkungen der Autoren sind keine Entdeckung von
Frank Schirrmacher. Sie wurden vor ihm schon mehrfach und
wissenschaftlich präzise dokumentiert. Der Essayist
führt die Erkenntnisse weiter, setzt sie in der gekonnten
Sprache des gehobenen Feuilletons mit deren lyrischen Werken in
Beziehung und die Lyrik wiederum mit der Kultur- und Weltgeschichte.
Denn was gibt es noch zu entdecken, nachdem die Welt vermessen ist?
Nach dem Ende der der Unendlichkeit ist die Lyrik das Einzige, was sich
der Beeinflussbarkeit von Raum und Zeit entzieht: "Durch
Heine
wurde die lyrische Seele kollektiv, durch die Psychoanalyse
demokratisch und durch die moderne Lyrik anachronistisch!"
(Seite 7)
Frank Schirrmachers Leistung liegt keineswegs im Erforschen. Die
fünf Essays beinhalten nichts Neues; die Texte sind weit
entfernt von literaturwissenschaftlichen Standards: Beispielsweise sind
die zahlreich abgedruckten Gedichte und Literaturzitate ohne Werkangabe
nicht nachvollziehbar. Aber er entdeckt den Lesern
Zusammenhänge. Dies mag noch mehr für die Neuauflage
gelten. Anno 1996 gab es noch Menschen, die den dargestellten Autoren
persönlich begegnet sind und mit ihnen eine Erfahrungswelt
geteilt haben mögen. 21 Jahre später sind
wahrscheinlich auch diese mit Ausnahme einiger Zeitzeugen Gottfried
Benns schon tot.
Zwei Generationen nach dem Tod Gottfried Benns, des jüngsten
der fünf Autoren, vermittelt die Neuausgabe Gelegenheiten,
deren Verhältnis zueinander und die Zusammenhänge
zwischen der Moderne und der deutschen und österreichischen
Geschichte für das Heute neu aufzuspüren. Lyrik ist
Zeitlosigkeit im historischen Zusammenhang!
(Wolfgang Moser; 07/2017)
Frank
Schirrmacher: "Die Stunde der Welt.
Fünf Dichter - ein Jahrhundert: George - Hofmannsthal - Rilke
- Trakl - Benn"
Blessing, 2017. 191 Seiten, mit 50 s/w-Illustrationen.
Geringfügig veränderter Nachdruck der Erstausgabe von
1996 in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen