Andrea De Carlo: "Ein fast perfektes Wunder"


Gelato con amore

"Ein fast perfektes Wunder" heißt der neue Roman des 1952 in Mailand geborenen Schriftstellers Andrea De Carlo. Und hier ist der Titel auch im übertragenen Sinn bindend, denn das, was der Italiener hier abliefert, grenzt wirklich fast an ein perfektes Wunder.

Fasste man nur die Handlungsstränge dieses Romans zusammen, könnte man denken, es mit einem Schundroman zu tun zu haben. Ließe man sich dann von dieser Annahme dazu verleiten, den Roman nicht zu lesen, entginge einem ein großartiger, unterhaltender, witziger und zugleich auch spannender Roman, der Sinnlichkeit und Weltsicht in den Mittelpunkt stellt. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, danach, was eine Beziehung ausmacht, und wie weit man durch Verbindlichkeiten und moralische Verpflichtungen dem Partner gegenüber gehen muss oder nicht, um jenes Leben zu führen, das man führen will. Zusätzlich ist dieser Roman ein überzeugendes Plädoyer für die Liebe selbst. Für diesen alles entscheidenden Augenblick, in dem man die Wahl hat, die Chance zu nutzen - oder nicht.

Wir befinden uns in der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur, in der Kleinstadt Fayence, wo gleich zu Beginn ein regionaler Stromausfall Ereignisse auslöst, die dazu führen, dass am Ende nichts mehr ist, wie es zu Beginn des Romans war.
Milena Migliardi, Besitzerin des Eissalons "La Merveille Imparfaite" sorgt sich um ihre liebevoll komponierten Eissorten, die durch den Stromausfall nun stark gefährdet sind. Lange werde sie so nicht halten. Die Eissaison ist schon vorbei, und Kunden sind nicht in Sichtweite. Milenas Idee, das Eis zumindest gratis auf der Straße zu verteilen, klappt nicht, weil die Menschen zu misstrauisch sind. Geschenktes Eis - da muss etwas faul sein. Dann erreicht sie der Anruf einer ihr unbekannten Person, die zehn Kilo Eis bestellt, mit Lieferung. Die Lieferadresse ist ihr ebenso unbekannt, es ist ein Gut im Wald, außerhalb der Stadt. Obwohl sie im Normalfall nicht einfach so liefern würde, nutzt sie die Chance und fährt los.

Im nächsten Kapitel lernt der Leser Nick Cruikshank kennen, einen etwas gealterten Sänger einer Rockgruppe, der verkatert in den Olivenhainen mit seiner dreirädrigen "Ape Piaggio Capri" herumdüst. Er ist etwas unrund und scheint auch leicht paranoid zu sein. Jedenfalls zweifelt er an mehr oder weniger allem, was ihm in den Sinn kommt. Sogar die Olivenpflücker sieht er als Gefahr für sein Leben. Besonders sympathisch ist er nicht, vielleicht weil er bewusst an den Klischeekrankheiten der Rockstars zu leiden scheint.

In abwechselnden Kapiteln kommen Milena und Nick zu Wort. Beide befinden sich in Beziehungen, wie sich bald herausstellt. In wenigen Tagen soll Nick am Vorabend eines Benefizkonzerts am Flughafenareal seine Lebensgefährtin Aileen heiraten, und Milena in wenigen Tagen mit einer Befruchtungstherapie beginnen, weil sie mit ihrer Lebensgefährtin Viviane ein Kind bekommen will. Kein besonders vorteilhafter Ausgangspunkt, den Andrea De Carlo gewählt hat, denn schon von Anfang ist natürlich klar, dass da, auch wenn die Vorzeichen alles Andere als optimal für eine Liebesgeschichte sind, irgendetwas kommen muss. Das ist wie mit der Pistole Tschechows, die im letzten Akt abgefeuert werden muss.

Damit es zu diesem unausweichlichen "Schuss" kommen kann, zieht Andrea De Carlo alle Register seines Könnens. Er zeichnet die Situation im Haus des Rockstars, die Anreise seiner Freunde, die Lebensgefährtin und die Haushälterin, die für ihn das ist, was seine Mutter nie war. Rasch merkt man, dass Nick sich in seiner Haut, in seinem Leben nicht besonders wohlfühlt. Eigentlich widert ihn alles an, er fühlt sich von seinen Musikerkollegen und ihren Frauen, die sein Haus nun als Hochzeitsgäste bevölkern, belagert. Dass Aileen noch zusätzlich für die Reportage über die Hochzeit Reporter eines Lifestyle-Magazins ins Haus geholt hat, macht die Sache auch nicht besser.

Derweil ist Milena, die nach enttäuschenden Männerbeziehungen meint, mit Viviane glücklich zu sein, dabei, zu verstehen, dass auch sie sich irgendwie unrund, unwohl fühlt. Gedanken, die sie eigentlich nicht zulassen will. Auch hier fächert De Carlo eindrucksvoll ihre Wandlung auf.

Eine besonders wichtige Rolle in diesem sinnlichen Roman spielt das Eis bzw. spielen die Eiskreationen Milenas. Obschon der Rezensent bereits einige Romane mit kulinarischer Komponente gelesen hat, ist das, was De Carlo an verliebter Sinnlichkeit der Geschmacksnerven bietet, definitiv einzigartig. Nicht nur, dass man eigentlich sofort genau diese Eissorten kosten möchte, man kann sie beim Lesen sogar schmecken. Dass der Autor sozusagen die Schnittstelle zwischen Räson und Leidenschaft findet, ist eine äußerst originelle und überzeugende Lösung.

Die Figurenzeichnung ist durchgehend lebendig und in die Tiefe gehend, was dazu führt, dass "Ein fast perfektes Wunder" in gewisser Weise auch eine Art Entwicklungsroman ist. Vielleicht sogar ein Entwicklungsroman der Liebe. Immer näher kommen sich Milena und Nick, bis die Sogwirkung überhandnimmt und kein anderer Ausweg als die bedingungslose Kapitulation mehr möglich ist. Andrea De Carlo lässt die Liebesgeschichte allerdings nicht im Vordergrund, sondern führt sie als logischen Nebeneffekt mit, er stellt quasi Milenas und Nicks Gedankengänge in den Mittelpunkt und bringt dergestalt eine gehörige Portion Gesellschaftskritik und Konsumkritik zum Ausdruck. Sein Können bewahrt ihn dabei vor plumpen Klischeelösungen und dem erhobenen Zeigefinger. Die Figuren kommen dem Leser dabei immer näher, bis man mit beiden mitfiebert.

Jene Steigerung, die mit nahendem Hochzeitstag immer näher kommt, wächst kontinuierlich, um dann, am Höhepunkt angekommen, in einem spektakulären Ende zu implodieren, das zusätzlich noch mit einer heftigen Portion Situationskomik versehen ist.
Eindrucksvoll von Maja Pflug übersetzt, ist "Ein fast perfektes Wunder" ein Roman mit unwiderstehlicher Sogwirkung, klug, geistreich, tiefgehend und trotzdem köstlich unterhaltend. Einfach fast ein perfektes Wunder.

(Roland Freisitzer; 09/2017)


Andrea De Carlo: "Ein fast perfektes Wunder"
(Originaltitel "L'imperfetta meraviglia")
Aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Diogenes, 2017. 399 Seiten.
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