Sorj Chalandon: "Mein fremder Vater"
Die
Berufe des Vaters
Sorj Chandalon ist einer der interessantesten Autoren Frankreichs, dem
die gebührende Anerkennung im deutschsprachigen Raum leider
noch nicht zuteil geworden ist. Auf "Die vierte Wand", "Die Legende
unserer Väter" und "Rückkehr nach Killybegs" folgt
nun in deutscher Übersetzung "Mein fremder Vater".
Der Autor schreibt Folgendes: "Jedes meiner Bücher
entspricht einer Wunde (...) Mein Vater war meine letzte Wunde. Ich
brauchte dreiundsechzig Jahre, um dieses Buch zu schreiben. Ich
weiß nicht, ob ich weitere schreiben werde."
Nach der Lektüre dieses ergreifenden Romans versteht der
Leser, was der Autor mit dieser Aussage meint.
Zu Beginn des Romans befindet sich der nun längst erwachsene
Émile Choulans mit seiner Mutter bei der Gedenkfeier
für den Vater. Nur sie beide sind da, und die Mitarbeiter des
Krematoriums. Diese Szene ist bereits so trostlos und beeindruckend,
dass man erahnen kann, welche seelischen Qualen die beiden durch jene
Person, die sie hier auf dem letzten Weg begleiten, erlitten haben
müssen.
Dann ein Zeitsprung, viele Jahre zurück. Émile
Choulans, das
alter ego des Autors, ist jetzt Schüler. Wir befinden uns in
den 1960er-Jahren. Es ist die Zeit de Gaulles, des Algerienkrieges und
die Zeit der politisch motivierten Unruhen in ganz Europa.
Émiles großes Problem ist sein Vater
André. Der Vater unterdrückt Frau und Sohn. Alles
muss so sein wie er das will, patriarchalische Autorität in
Reinkultur. Als die Mutter mit einer Freundin auf ein Konzert eines
bekannten Sängers gehen will, ist er eingeschnappt. Als sie
nach dem Konzert heimkommt, lässt er sie nicht in die Wohnung,
damit die Nachbarn sehen, welche Schlampe hier wohnt. Wenn der Sohn
irgendetwas verrückt oder etwas Falsches sagt oder auch
einfach nicht so reagiert, wie sich der Vater das vorstellt, dann
hagelt es Schläge, Tritte und Bestrafungen, die so
hinterhältig und untergriffig sind, dass man es als Leser kaum
aushält.
Psychischer Terror wechselt sich mit physischer Gewalt ab. Zur
Unterstützung erzählt der Vater dem Sohn alle
möglichen Geschichten, die sein Leben geprägt haben.
Oder hätten? Vom Rebellen bis zum "CIA"-Agenten, der dazu noch
den einarmigen us-amerikanischen Helden Ted zur Seite hat, vom
Fallschirmspringer bis zum "OAS"-Terrorkopf. Fußballprofi und
Pilot. Alles will der Vater gewesen sein. Seinen Sohn rekrutiert er als
"OAS"-Mitkämpfer, zwingt ihn an Abenden vor
Mathematikschularbeiten zu militärischen Drills. Er
erzählt ihm von seinen politischen Kontakten, die von Pontius
zu Pilatus reichen. Dass er dabei nie Rechnungen zahlt und
Émile so das Judotraining abbrechen muss, dass er nie die
Rechnungen für die Autoreparaturen zahlt, sind Tatsachen, die
dem Sohn zwar auffallen, die er aber nicht richtig einordnen kann.
Permanent ist er den politischen Ansichten des Vaters ausgesetzt und
wird von ihm bedrängt, Drohbriefe nachts an diverse Personen
auszuliefern. Zu Fuß, versteht sich, da der Vater nicht
gewillt ist, dem Sohn die Fahrkarten für die
öffentlichen Verkehrsmittel zu zahlen. Dass sich
Émile so nicht auf seine schulischen Leistungen
konzentrieren kann, ist kein Wunder. Allerdings folgen auf schlechte
Noten noch mehr Schläge. Ein Teufelskreis, aus dem es kein
Entrinnen zu geben scheint.
Die Mutter, selbst eingeschüchtert und ständig durch
Schläge
oder verbale Gewalt bedroht, kann ihrem Sohn nicht
helfen. Auch sie kann sich nicht gegen das Monster wehren, das bei
ihnen wohnt und sie terrorisiert.
Als ein neuer Schüler in Émiles Klasse kommt, ein
Algerienheimkehrer, leitet Émile den Druck, den er von
seinem Vater aufgebürdet bekommt, um. Er erfindet nun selbst
wahnwitzige Geschichten, ahnend, dass das, was sein Vater ihm an
Wahrheiten auftischt, eher Lügenmärchen sind. Weil
immer, wenn der Punkt vermeintlich da ist, Beweise für die
Tätigkeiten des Vaters zu erhalten, unvorhersehbar etwas
dazwischenkommt. Émile treibt es mit dem neuen
Schüler, der sich als dankbares Opfer erweist, leider zu weit,
und so kommt, was kommen muss: Alles fliegt auf, und sein Freund muss
für den Schwachsinn büßen, den
Émile, halb daran glaubend, dass das, was der Vater plant,
wahr ist, ins noch Abstrusere verwandelt hat.
Sorj Chalandon schreibt nüchtern, brillant und
präzise, er braucht für das, was er erzählen
muss, keine Exzesse, keine überflüssigen Floskeln.
All das, was passiert ist, ist hart genug, ohne dass es
zusätzliche Beleuchtung bräuchte. Dieser Roman ist in
erster Linie ein sehr persönlicher Text, die Aufarbeitung
einer tragischen Kindheit, eines Vater-Sohn-Verhältnisses,
das
so verstörend ist, dass man sich als Leser das eine oder
andere Mal fast wie ein Voyeur vorkommt, der hier verbotenen
Familiengeheimnissen lauscht.
So verstörend und traurig dieser Text auch ist, ist er ein
literarischer Wurf ohnegleichen. Kongenial übersetzt, trifft
hier jedes Wort, jede Zeile, jeder Absatz und jedes Kapitel ins Mark.
Das kann einfach nicht kalt lassen. An dieser Stelle muss auch gesagt
werden, dass es dem Autor in diesem Roman, denn das ist er, die fiktive
Umsetzung ist sicherlich gegeben, in keinem Moment um Mitleid geht.
Mitgenommen klappt man am Ende dieses Buch zu und ist trotz alldem,
womit man konfrontiert worden ist, froh, diesen Roman gelesen zu haben.
(Roland Freisitzer; 09/2017)
Sorj
Chalandon: "Mein fremder Vater"
(Originaltitel "Profession du père")
Aus dem Französischen von Brigitte Große.
dtv, 2017. 269 Seiten.
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