Luigi Capuana: "Giacinta"


Späte Entdeckung eines Klassikers

Genau 138 Jahre hat es gedauert, bis "Giacinta", der Debütroman des sizilianischen Autors Luigi Capuana in deutscher Übersetzung erscheinen konnte. Offensichtlich inspiriert durch Émile Zolas Zyklus "Rougon Macquart" verwirft er die damals vorherrschende Idee eines italienischen Naturalismus und schafft so vielleicht die erste Variante des italienischen Verismus. Der Suche nach der Wahrheit in der Literatur, die realistische Zeichnung der Zustände. Nicht ohne Grund ist dieser Roman auch dem französischen Autor gewidmet. Die erste Ausgabe war einerseits so erfolgreich, dass sie sofort vergriffen war, andererseits aber auch ein Skandal, der den Autor dazu zwang, eine abgemilderte Variante seiner Abrechnung mit dem sizilianischen Bürgertum zu verfassen. In dieser abgeschwächten Form war das Buch bis weit in das zwanzigste Jahrhundert in der Originalsprache erhältlich.

"Andrea spitzte ungeduldig die Ohren. Dieser starke Frauencharakter nahm ihn aufs Unglaublichste gefangen. Giacinta war klein und von zierlicher Gestalt, doch in diesem Augenblick erschien sie ihm größer und kräftiger als er."
Blitzende Augen, ein flottes Mundwerk und eine zierliche Gestalt sind Giacinta eigen, sie ist die Frau, der die Männer der Reihe nach verfallen. Egal ob Oberst oder einfacher Beamter, beim Anblick Giacintas schlagen die Herzen der Männer gleich doppelt so schnell. Sie ist der Fleisch gewordene sinnliche Traum, den sie nie wagten, zu haben. Allerdings hat die Sache einen Haken. Nämlich den, dass so viel Weiblichkeit eine gesellschaftliche Brisanz birgt, mit der die meisten nicht umgehen können. Nicht einmal Giacintas Eltern. Bei den Salons der Familie hofft die Mutter, eine fabelhafte Partie für ihre Tochter zu ergattern, in erster Linie allerdings für die Reputation der Familie und so auch für sich. Giacinta selbst lässt sich von den Gefühlen treiben, und so führt alles, wie man bald ahnt, ins Verderben.

"'Also ...', als wollte sie selbst nicht wahrhaben, was sie da gerade im Begriff war zu sagen, 'Der Mann meines Herzens kann ... vielleicht ... eines Tages ... mein Geliebter werden, aber mein Mann, nein, niemals!'"
Gleich der erste Abschnitt, ein rauschendes Fest, eine Abendgesellschaft, zeigt, wie faszinierend Capuana farbenreiche Bilder zeichnet. Die unzähligen Details im Hintergrund, der das Bild der damaligen Gesellschaft festhält, sind so spannend, dass man gerne zurückblättert und sich die Beschreibungen noch einmal auf der Zunge zergehen lässt. Da sind die schweren Polstermöbel, übergewichtige und schwitzende Ehefrauen von wichtigen Anwälten, Schwestern von Beamten, deren Gesichter denen von Pferden gleichen, plaudernde Wichtigtuer und der beleibte Hausherr Signor Marulli, dem eigentlich alles egal ist, weil seine Frau wie ein Zerberus über allem wacht.

Zwischen den beinahe anthropologischen Beobachtungen deckt Capuana die Ursprünge der konfliktbeladenen Beziehung zwischen Mutter und Tochter auf. Die Mutter, Teresa Marulli, ist eine Frau, die eine unsympathische Variante von Madame Bovary sein könnte. Sie hat keine Geduld mit ihrer Tochter und stößt sie an eine Amme auf dem Land ab. Dort entwickelt sie Vertrauen zu einem zwielichtigen Hausdiener, der die dreizehnjährige Giacinta vergewaltigt. Das ist, wie es ein Freund des Vaters später bezeichnet, ein "Malheur" und nimmt ihr die Chance, als ernsthafte Heiratskandidatin wahrgenommen zu werden. Hier liegt der Grundstein für Giacintas Theorie der Liebe, an der sie letztendlich scheitern wird. Währenddessen vergnügt sich die Mutter mit einem ausschweifenden Lebensstil und mit diversen "Cousins". Nachdem das Mädchen zurück in die Familie darf, bleibt es in Obhut von diversen Dienstmädchen, die, jede für sich, ein manipulatives Spiel mit ihm treiben.
"'Ich wollte ... verstehst du? ... ich konnte nicht in deiner Schuld stehen! Es war wichtig, dass wir uns auf Augenhöhe lieben. Jetzt werden deine Lippen mir keine schmähliche Beleidigung mehr entgegenschleudern können, jetzt ist die Großzügigkeit auf meiner Seite! Ich bin es, die sich dir hingibt - nicht du bist es, der mich nimmt. Seit einem Jahr trage ich diesen Gedanken mit mir herum, hat sich diese fixe Idee in meinem Herzen eingegraben. Gott allein weiß, wie viel ich geweint habe, welche Kämpfe ich gegen die Tausende Hemmnisse meines weiblichen Instinkts ausgefochten habe ...!'"

Es ist wahrlich faszinierend, wie präzise und wortgewaltig Luigi Capuana die gesellschaftlichen Gepflogenheiten aufdeckt, wie er Bigotterie und Falschheit zeigt, wie er die Schauplätze dieses Romans eindringlich zeichnet. Kongenial übersetzt, frisch und farbenreich, ohne je zu altbacken oder gar anachronistisch zu wirken, ist dieser Roman, ist diese Erst- und Neuübersetzung der Urfassung von "Giacinta", eine wirkliche Entdeckung auf einer Höhe mit den besten Romanen der Zeit angesiedelt. In vielerlei Hinsicht ungebrochen brandaktuell, vor allem in Zeiten, wo Frauenrechte noch immer nicht durchgehend unumstritten selbstverständlich sind und es leider noch viele Männer gibt, die Protagonisten in diesem Roman sein könnten.

Bleibt zu hoffen, dass Manesse auch die anderen Romane dieses Autors in Neuübersetzungen folgen lässt.

(Roland Freisitzer; 05/2017)


Luigi Capuana: "Giacinta"
(Originaltitel "Giacinta")
Aus dem Italienischen von Stefanie Römer. Nachwort von Angela Oster.
Manesse, 2017. 330 Seiten.
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Luigi Capuana (1839-1915), Sohn sizilianischer Landbesitzer, lebte nach einem abgebrochenen Jurastudium als Theaterkritiker in Mailand, Florenz und Turin. Er schrieb zahlreiche Novellen, drei Romane und sammelte Volksmärchen.