T. C. Boyle: "Die Terranauten"


Ökoseifenoper trifft auf Unterhaltungsüberwachung

T. C. Boyles mittlerweile sechzehnter Roman hat seinen Ausgangspunkt in einem Experiment, das in den 1990er-Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika durchgeführt wurde. Ein riesiges Gewächshaus, irgendwo in der Wüste von Arizona, bildet den räumlichen Fixpunkt. In dieses Gewächshaus werden vier Frauen und vier Männer gepflanzt, die mittels eines langwierigen und entwürdigenden Auswahlverfahrens gewählt werden, das sehr viele Ähnlichkeiten mit den heutzutage angeblich so breitenwirksamen Fernsehformaten aufweist.

Die Auserwählten, also die Terranauten, sollen das Überleben in einem geschlossenen Ökosystem testen. Dieses "Biosphären-Projekt" sollte in der Wüste Arizonas eine künstliche Welt kreieren, um so eine Art unberührtes, von all den Umweltsünden der Menschheit befreites Leben testen zu können, das im Fall von gröberen Umweltzerstörungen oder gar Kriegen als Erfahrungswert für eine Alternativvariante gelten sollte. Vielleicht gar für das Leben im Weltall. Die beiden Anläufe damals scheiterten relativ rasch an den Faktoren Mangelernährung und einem zu geringen Sauerstoffgehalt der Luft.
Niemand darf hinaus, niemand darf hinein, niemand darf krank werden, und niemand darf schwanger werden. Die Auserwählten erhalten rote Ganzkörperanzüge und ziehen, von Fernsehkameras und großem Medienrummel begleitet, in das Gewächshaus ein. Die Gruppe muss sich in jeder Hinsicht selbst versorgen: Ziegenmilch, selbstgebrauter Bananenwein und ebenso selbstgezogene rote Rüben. Alles, was im geschlossenen Raum selbst produziert werden kann. Erdnussschalen dienen als Pokerwährung, bis man die Erdnüsse mitsamt Schalen verzehrt, um mehr Kalorien zu sich zu nehmen. Und natürlich, man kann es aus der Ferne bereits riechen: Wo vier Frauen und vier Männer auf engstem Raum eingeschlossen werden, da entstehen natürlich sexuelle Wünsche, die in Spannung und Entspannung ausarten. Das ist nur natürlich und auch so vorprogrammiert.

Wer hierbei nicht an seltsame Zeitgeistverirrungen wie "Dschungelcamp" oder "Big Brother" denkt, ist wirklich beneidenswert weit weg vom Fernsehalltag. Wie auch immer, ein Stoff, der in T. C. Boyles Hand eigentlich ein richtiger Lesegenuss sein sollte. Spritzigkeit, Bissigkeit und Humor waren ja immer jene Zutaten, welche die besten Bücher dieses Autors gemeinsam hatten. Man denke nur an "Willkommen in Wellville", "Grün ist die Hoffnung" oder "Wassermusik", um drei der wirklich gelungensten Romane Boyles zu nennen.

In "Die Terranauten" passiert allerdings ein wenig das, was bereits in "Drop City" zu Längen geführt hat. Durch die Konzentration auf drei Erzählstimmen, die jeweils aus eigener Perspektive erzählen, schleicht sich der "Big Brother"-Effekt noch stärker ein, als wenn vielleicht ein auktorialer Erzähler mehr Distanz in den Text gebracht hätte. Ebenso hätte dem Text eine womöglich weniger blockhafte Struktur gut getan, die sich natürlich dann ergibt, wenn kapitelweise die Erzähler wechseln.

Die drei Erzähler beschränken sich auf die attraktive und blonde Dawn, die für das Wohl der Tiere zuständig ist, auf Ramsay, einen unverbesserlichen Frauenhelden, der gleichzeitig quasi der Medienmann ist, zuständig für die Darstellung der Gruppe nach außen hin, und zuguterletzt Linda, die beim Auswahlverfahren knapp gescheitert ist. Sie betreut das Projekt jetzt administrativ, also nicht im Glashaus. Linda ist natürlich traurig und verbittert, nicht zu den Auserwählten zu gehören. Dass sie eine Spitzelfunktion hat, verwundert eigentlich nicht.

Mit dem für seine Bücher typischen, sehr eigendynamischen Biss macht sich Boyle daran, jene Intrigen und Spannungen aufzuzeigen, die in der vorhandenen Konstellation natürlich wie vorherbestimmt auftreten. Er führt die Doppelmoral und Spießigkeit der Ökoaktivisten aufs Glatteis, lässt sie ordentlich ausrutschen und Knochenbrüche erleiden. Auch der "Big Brother" selbst, also der Projektgründer und große Chef, der aus dem Hintergrund die Puppen lenkt, bekommt ordentlich sein Fett ab. Dass das ganze Projekt plötzlich durch ein unvorhersehbares Ereignis in akute Gefahr gerät, ist der berühmte Drehmoment, der bei Boyle immer genau an der richtigen Stelle kommt.

Da die Figuren leider per se nicht allzu interessant sind, ihre hauptsächliche Berechtigung liegt darin, dass sie Terranauten sind, beschäftigt sich T. C. Boyle in erster Linie damit, ihre menschlichen Schwächen zu beleuchten. Das gelingt ihm natürlich ausgezeichnet. Der Roman liest sich auch wunderbar und wirklich flüssig, er ist nur leider nicht so komplex (im Sinn der möglichen Verstrickungen), wie man sich es aufgrund der Konstellation gewünscht hätte. Somit gleitet er irgendwann in einen einschläfernden Seifenopernsingsang, dem dann doch, wie in der Wirklichkeit, leider ein wenig der Sauerstoff abhanden kommt.

(Roland Freisitzer; 02/2017)


T. C. Boyle: "Die Terranauten"
(Originaltitel "The Terranauts")
Übersetzt aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren.
Hanser, 2017. 608 Seiten.
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