Szilárd Borbély: "Kafkas Sohn"
Ein
Kafka kommt selten allein
Der Literaturwissenschafter und Lyriker Szilárd
Borbély, dessen erster und einziger vollendeter Roman "Die
Mittellosen" vor wenigen Jahren großes Interesse
und Begeisterung hervorgerufen hat, litt unter Depressionen. Im Jahr
2000 wurden seine Eltern zu Weihnachten zu Hause überfallen,
die Mutter wurde von den Einbrechern getötet, der Vater schwer
verletzt; er musste folglich mehrfach in der Psychiatrie behandelt
werden und starb sechs Jahre später.
Szilárd Borbély, 1964 im ungarischen
Fehérgyarmat geboren, Lyrikübersetzer aus dem
Deutschen und dem Englischen (u.A. übertrug er Werke Robert
Gernhardts und Durs Grünbeins ins Ungarische),
erhängte sich am 19. Februar 2014.
Das vorliegende Buch entstand aus einer im Nachlass aufgefundenen
Textsammlung, die der Autor offenbar in einen Roman münden
lassen wollte, dessen Beinahevollendung er seinem ungarischen Verleger
allerdings bereits Monate vor dem Selbstmord mitgeteilt hatte.
"Die Übersetzungsarbeit gestaltete sich anders als
üblicherweise, denn wir mussten der Neigung widerstehen, den
Unstimmigkeiten einen Sinn geben zu wollen, d.h., wir mussten auch dem
offensichtlich Sinnlosen vertrauen. Und gleichzeitig jedes Wort, jeden
Satz skeptisch prüfen. Stimmen die historischen Daten? Handelt
es sich bei einer Stelle um ein Zitat? Vieles bleibt offen. Zum
Beispiel Auswahl und Anordnung der Episoden und Motive. Und auf welche
Weise Kafkas Geschichte und die des Erzählers sich verbinden.
Einige Zitate und Quellen konnten wir auch dank der Hilfe von
Ágnes Mészáros, Szilárd
Borbélys Witwe, recherchieren." (S. 197, 198)
Szilárd Borbély näherte sich seinem
Thema behutsam, indem er den Weg mit den eröffnenden Kapiteln
"An den Leser", "Aus Hermanns Aufzeichnungen", "Kafka und die
Straßen", "Kafka und mein Zwillingsbruder" und "Kafka im
Badezimmer" sanft in eine Parallelwelt umleitete.
"Ich sah alle Ängste und Beklemmungen meiner Kindheit Gestalt
annehmen", schreibt der Erzähler über sein
Lektüreschlüsselerlebnis; natürlich ist ein
Werk Franz Kafkas gemeint.
"Kafkas Sohn" bietet eine lose Szenenfolge, die, einmal
rätselhaft, dann wieder (scheinbar?) lebensnah, auf der
Beschäftigung Szilárd Borbélys mit
Glaube, Welt,
Leben und Werk Franz Kafkas fußt, sich freilich fantasievoll
und beziehungsreich davon inspirieren lässt und
darüber hinausgeht, denn der ungarische Schriftsteller
identifizierte sich anscheinend bis zu einem gewissen Grad mit dem
Prager Literaten bzw. dessen Vater und versuchte, das Dasein durch
deren Sinnesorgane, mit deren Seelen, wahrzunehmen, sich
bestmöglich in seine höchstpersönlichen
Kafkavariationen und Kafkaversionen hineinzuversetzen und ihnen seinen
eigenen Lebensatem einzuhauchen. So sind die Kafkas als kafkaeske
Romanfiguren entstanden, ausgehend z.B. von Kafkas "Brief
an
den Vater", seinen Briefen an Felice, dem Roman "Der
Prozeß" sowie einem im Verlag Klaus Wagenbach erschienenen
Band über Kafkas Prag.
Im Mittelpunkt stehen Vater Hermann und Sohn Franz Kafka sowie deren
unterschiedliche Weltbilder und bittere Konfrontationen, wenn z.B. der
Erwerb eines Fahrrads Thema ist, oder Hermanns durch und durch
kaufmännisch geprägte Krämerseele spezielle
Blüten treibt, wobei jeder der beiden Männer
gebührend ausführlich zu Wort kommt, um seine
jeweilige Sicht der Dinge nachvollziehbar darzustellen. Es entsteht ein
wahrhaftiges Aufeinanderstoßen der Generationen und ihrer
Ansichten. In psychologisch ausgefeilten Szenen wird das komplizierte
Verhältnis zwischen Vater und Sohn sichtbar.
Die Kafkas werden von Szilárd Borbély in
anscheinend als besonders aussagekräftig empfundenen
Situationen gezeigt: beispielsweise als Schriftsteller mit alternativem
Tagesablauf, als in Prag flanierender Sonderling, als Angestellter der
Versicherungsanstalt, als umständlicher Briefeschreiber, als
potenzieller Selbstmörder und - vor allem - als Sohn, der
eine, als vergangenheitsbeladener, erfolgreicher Geschäftsmann
und aufbrausender Vater der andere.
Mit großem Einfühlungsvermögen, bilderreich
und atmosphärisch dicht beschrieb Szilárd
Borbély tatsächliche und erfundene Begebenheiten
und Kulissen aus der Welt eines Franz Kafka, den er wohl als
Seelenverwandten betrachtete. Man muss freilich kein Kafka-Experte
sein, um mit Szilárd Borbély in das Prag
vergangener Zeiten einzutauchen, und der Vater-Sohn-Konflikt ist
ohnedies ein zeitloser.
Manche Kapitel weisen keinen vordergründig erkennbaren Bezug
zu den historischen Kafkas auf, sondern stehen innerhalb der
Textsammlung ganz für sich (z.B. "Nebukadnezars Schweigen" und
"Das Ehepaar Schnee"), fügen sich jedoch harmonisch in die
Gesamtkomposition ein.
"Dieser Roman spielt in Osteuropa. In Wirklichkeit ist es gar
kein Roman und spielt auch nirgendwo. Er erzählt keine
Ereignisse, wie ein Roman sonst Geschichten erzählt, er
möchte ihm nur ähneln. In Wirklichkeit
erzählt er vom Reisen. Vom Reisen Kafkas, der mit Kafka
nicht identisch ist. Das heißt, vom Bleiben an ein und
demselben Fleck, ohne das das Reisen seinen Sinn verlöre. In
Wirklichkeit erzählt er nicht von Franz Kafka, dem Sohn
Kafkas, sondern vielmehr vom Vater, dem gefürchteten Hermann
Kafka." (S. 17, 18)
Im Abschnitt "Kommentare" werden aufschlussreiche
Erläuterungen bzw. Anmerkungen des Übersetzerduos zu
einigen unklaren Textstellen geboten, denn man konnte den Autor nicht
mehr dazu befragen und war darob genötigt, gewisse
Unschärfen auf sich beruhen zu lassen.
Heike Flemming berichtet in ihrem mit "'Eine Verlorenheit, die ich
kannte.' - Zu Szilárd Borbélys Kafka-Fragment"
betitelten Nachwort von der besonderen Wertschätzung des
Autors für Franz Kafkas Werke und der aufgrund des Schicksals
des Judentums empfundenen Verbundenheit.
Das Schlusswort hat Lacy Kornitzer mit seinem Text "Auf der Suche nach
einem Glauben", worin er Borbélys Schaffen in Bezug zu jenem
Kafkas wie auch Imre Kertész' setzt, interessante Vergleiche
anstellt und Gemeinsamkeiten aufzeigt.
"Kafkas Sohn" ist ein zauberhaft geschriebener und ausgezeichnet ins
Deutsche übertragener sowie bearbeiteter Text mit wertvollen
Bemerkungen der beiden Übersetzer. Eine derart gelungene,
informative Gesamtdarstellung würde man sich prinzipiell
für aus Nachlässen zusammengestellte Bände
wünschen.
Während Franz Kafkas Nachlass posthum entgegen seinem Willen
von Max Brod veröffentlicht wurde, war die Publikation der
Texte Szilárd Borbélys wohl ganz im Sinn des
Autors.
(Irmgard Ernst; 04/2017)
Szilárd
Borbély: "Kafkas Sohn"
(Die Übersetzung folgt dem Manuskript "Kafka fia", das sich im
Nachlass des Autors befindet.)
Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Heike
Flemming und Laszlo
Kornitzer.
Suhrkamp, 2017. 206 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Dieter Lamping: "Kafka und die Folgen"
"Ich bin Ende oder Anfang", hat Kafka 1918 geschrieben. Wenn es eine
Frage war, so ist sie entschieden, und zwar durch die Nachwelt. Kafka
war ein Ende: sofern er einer Welt angehörte, die im
europäischen Totalitarismus untergegangen ist, der Welt des
deutschsprachigen Prager Judentums vor 1933. Kafka ist aber auch ein
Anfang: eine zentrale Figur der Moderne, von einer Ausstrahlung, die
weit über die Literatur hinausgeht, aber in der Literatur
besonders wirksam ist. Was Kafkas Werk und besonders seine Art des
Erzählens ausmacht, skizziert der Band ebenso wie seine
Wirkung, vor allem auf Philosophen und Schriftsteller von Theodor W.
Adorno und Hannah Arendt bis zu Peter Handke und
Mario
Vargas Llosa. (J.B. Metzler)
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