Maurice Blanchot: "Thomas der Dunkle"
Aufklärung
ist nachweislich keine Panazee: Hochtrabende Gedankenspielereien und
sprachliche Versuchsanordnungen "Thomas der
Dunkle" bietet keinen
gefälligen Erzähler, keine greifbare Handlung, und
dennoch wird im Verlauf der Lektüre eine gewisse Sogwirkung
spürbar. Die Figuren Thomas und Anne bleiben nahezu
gestaltlos, sie verfügen über
keine Biografie, keine Zeit, keinen Ort, Grenzgängern gleich
pendeln sie zwischen Unmöglichkeiten und Verneinungen,
zwischen Vernunft und Mystik. Die visionär-traumartige Prosa
besteht aus Szenenfolgen, die das ambivalente Denken und das
Schreiben
an sich umkreisen, aus inneren Monologen, aus Schilderungen
von
Naturereignissen und Sinneseindrücken. Bestimmende Themen
sind
das Selbst und der Andere, Leben und Tod, Wahrnehmung und
Bewusstsein,
Sehnsüchte und Vorstellungen, Anfang und Ende,
Schöpfung und Weltuntergang. "(...) Ich
empfinde es, indem
ich es nicht empfinde, und da es nichts empfindet und
nichts ist,
besteht diese Absurdität aus ihrer eigenen
ungeheuerlichen
Substanz. Etwas völlig Absurdes dient mir als Grund. Ich
fühle mich tot - nein; ich fühle mich im Leben
unendlich viel toter als tot. Ich entdecke mein Sein in
dem
schwindelerregenden Abgrund, wo es nicht ist;
Nichtvorhandenheit; in
der Nichtexistenz wohnt es wie ein Gott. Ich bin nicht,
und doch dauere
ich; eine unerbittliche Zukunft breitet sich unendlich
weit vor diesem
unterdrückten Sein aus. Vor der sie mitschleppenden Zeit
wandelt sich die Hoffnung in Entsetzen. Alle Gefühle
strömen aus sich selbst heraus, und zerstört sowie
abgeschafft stürzen sie in dem Gefühl zusammen, das
mich durchströmt, das mich erschafft und abschafft und
mich,
mittels gänzlicher Abwesenheit von Gefühl, meine
Wirklichkeit in Form des Nichts grauenvoll spüren
läßt. Ein Gefühl, das Angst
heißen mag und das ich so nenne. Da ist denn die Nacht.
(...)"
(S. 102, 103)
Die "Französische Bibliothek" des "Suhrkamp"-Verlags wurde im
Oktober 2017 mit fünfzehn Titeln, darunter "Thomas der
Dunkle", eröffnet.
"Die Französische Bibliothek ist in Zusammenarbeit zwischen
der Académie de Berlin und dem Suhrkamp Verlag entstanden.
Gemeinsam wollen wir auf bedeutende, aber fast vergessene Werke der
modernen französischen Literatur aufmerksam machen - die
Französische Bibliothek soll dazu in einer ersten Auswahl als
Kompass dienen und als Anregung, sich immer wieder aufs Neue
für französische Literatur in deutscher Sprache zu
begeistern. (...) Für die Französische Bibliothek
haben die Mitglieder der Académie de Berlin eine erste
persönliche Auswahl an größtenteils
vergriffenen Büchern getroffen, die nun wieder vorliegen "
- verlautbarte der Verlag zum Auftakt.
Ungläubig das unbegreifliche Nichts erkunden, wo
Vernunft keine Strahlkraft besitzt: Die Macht der Worte in Theorie und
Praxis
Der enigmatische Roman "Thomas der Dunkle" ist das bekannteste Werk des
in Frankreich einflussreichen Dekonstruktivisten,
Diskursbegründers und Autors Maurice Blanchot. Der schmale
Band erschien erstmals anno 1941, im Jahr 1950 in
überarbeiteter Fassung. Diese liegt der
gegenständlichen Ausgabe in der "Französischen
Bibliothek" zugrunde. Die kraftvolle deutschsprachige Version stammt
vom Schweizer Schriftsteller und Übersetzer Jürg
Laederach (geboren am 20. Dezember 1945 in Basel).
"Blanchieren" bedeutet bekanntlich "Weißmachen", doch
Aufhellung war keineswegs eines der Anliegen Maurice Blanchots, sollte
eventuell jemand geneigt sein, ihm aufgrund seines Familiennamens
derlei zu unterstellen, und "obscur" kann als "dunkel", "finster",
"seltsam", "undurchsichtig" und auch "verworren", also in gewisser
Weise "der Vernunft entzogen" übersetzt werden.
Befasst man sich mit Maurice Blanchot, sieht man sich umgehend mit
dessen ausgepägtem Hang zu Privatheit konfrontiert: Niemals
trat er in Fernseh- oder Radiosendungen auf, ließ sich nicht
fotografieren (angeblich existieren lediglich drei Aufnahmen), und
private Schriften mussten seinem Wunsch entsprechend vernichtet werden.
Der Autor wollte sich ausschließlich in seinem Werk verewigt
wissen.
Maurice Blanchot wurde entweder am 22. September oder am 12. Dezember
1907 geboren, studierte in Straßburg und Paris Philosophie
und Literatur und war bei verschiedenen Zeitschriften tätig.
Er publizierte essayistische Texte und verfasste auch als Kritiker
vielbeachtete Artikel. Als dunkle Stelle in seiner Biografie gilt sein
Engagement für den Faschismus in den 1930er-Jahren. Mit dem
in Litauen geborenen jüdischen Philosophen Emmanuel
Lévinas (1906-1995) verband ihn eine langjährige
enge Freundschaft.
Kurioses Detail am Rande: Maurice Blanchot sprach einst Einladungen an Salman
Rushdie und Ayatollah Khomeini aus, bei ihm zu Hause
über den Koran und Rushdies Buch "Die satanischen Verse" zu
diskutieren - die Unterredung fand nicht statt.
Maurcie Blanchot starb am 20. Februar 2003.
Mit "Thomas der Dunkle" hat Maurice Blanchot keinen leicht bekömmlichen Allerweltstext geschaffen, sondern ein kleines obskures Kunstwerk, das zum Sinnieren, Definieren und Nachhallenlassen einlädt. Der Schlusssatz lautet: "Auch Thomas betrachtete diese Flut roher Bilder, und dann, als er an die Reihe kam, stürzte er sich hinein, aber traurig, verzweifelt, als hätte die Scham für ihn begonnen."
(kre; 11/2017)
Maurice
Blanchot:
"Thomas der Dunkle"
(Originaltitel "Thomas L'Obscur")
Übersetzt von Jürg Laederach.
Suhrkamp, 2017. 115 Seiten.
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Weitere
Bücher
des Autors (Auswahl):
"Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch
über Sprache, Literatur und Existenz"
Maurice Blanchot wird neben Jacques Derrida als einer der
größten Literaturkritiker der Neuzeit angesehen. In
seiner Essaysammlung "Das Unzerstörbare" umkreist der
Sprachwissenschaftler das Zentrum seines philosophischen und
dichterischen Schaffens: Die Erfahrung von Sprache, Literatur und
Kunst
nach der radikalen Auflösung aller positiven
Absolutheitsvorstellungen. Geht es zunächst um Kommunikation
zwischen Literatur und Kunst, so thematisiert der zweite Teil das
Verhältnis von Literatur und Sprechen. Letztlich bezieht er
seine Überlegungen dann auf die Gesellschaft, Intellektuelle,
wie Heidegger oder Valéry, Atheismus und Humanismus. (Hanser)
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"Warten Vergessen"
"Wartete man auf etwas Bestimmtes, so wartete man schon etwas
weniger."
Vielleicht könnte man "Warten Vergessen" einen Bericht nennen
- aber höchstens einen Bericht von etwas, das sich nicht
berichten lässt. Er handelt von Paradoxien, von dem Erinnern,
das zugleich Vergessen wäre, von der Anwesenheit, die zugleich
Abwesenheit ist, von der Vereinigung, die Entzweiung zu werden
droht.
Dieses extreme Buch, in dem der Handlung kaum noch Platz gelassen
wird,
versucht, das Stillstehen der Zeit fühlbar, spürbar,
nachempfindbar zu machen. (Suhrkamp)
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Weitere Buchtipps:
Jürg Laederach: "Harmfuls Hölle. Erzählungen"
Jürg Laederachs Erzählungen sind aberwitzig, komisch,
satirisch unterhaltend: Literatur auf dem Hochseil - das zu des
Lesers
Schadenfreude und Verblüffung gelegentlich knapp über
dem Boden schlappt.
Der übliche Held der Handlung findet in der Regel das
Bühnenbild vor und fängt an, es quer zu durchlaufen.
Harmful läuft los und erzeugt damit die Bühnenbilder.
Womöglich erdenkt er sie, ist ihnen aber doch ausgeliefert.
Weder ist er - was er gern möchte - der einzige Held, noch
hält die Hölle
den Prüfungen seines
Hitzemessers stand. Er hätte gern seine Ruhe, doch die Stimmen
vieler Anderer quälen ihn. Nicht die geringste dieser Qualen
ist es, dass er darüber - unter erheblichen Eigenkosten -
lachen könnte.
Das Buch macht Angebote. Zur allgemeinen Entgleisung in den
Schrecken
gehört auch das Herausrutschen der Person aus der
Persönlichkeit. Einmal wird Harmful von Arti gesehen, Harmfuls
Nachbarin, seiner Untergebenen, Geliebten - und Kommentatorin.
Harmful
als Faust? Dies wäre eine schöne Entwicklung. Mit
Harmful leider nicht. Überall erzählt eine mit
spektralen Fähigkeiten versehene Monsterfigur mit
großer Ausdauer und kleinem Mut.
"Die Kunst ist das Waldorf-Astoria des Lebens, und das
menschliche Gemüt ist die große Stadt in der Stille,
das mußt du berücksichtigen." (Suhrkamp)
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Salomon Malka: "Emmanuel
Lévinas. Eine Biografie"
Emmanuel Lévinas (1906-1995) zählt zu den
bedeutendsten Denkern des 20. Jahrhunderts. Als Sohn jüdischer
Eltern in Kaunas (Litauen) geboren, studierte er in den
1920er-Jahren
Philosophie zunächst in Straßburg, später
bei Edmund
Husserl und Martin Heidegger in Freiburg. Seine innovative
und radikale Weiterentwicklung der Phänomenologie Husserls und
der Daseinsanalyse Heideggers, insbesondere seine Überlegungen
zum Umgang mit dem Anderen, haben ihn vor allem in Deutschland und
Frankreich zu einem der wichtigsten und einflussreichsten
Philosophen
der letzten Jahrzehnte werden lassen. In dieser ersten auf deutsch
erschienenen Biografie erzählt Salomon Malka von den zentralen
Stationen und wichtigen Begegnungen im Leben Emmanuel
Lévinas'. Aus einer von jüdischen Traditionen
geprägten Welt in Litauen findet Lévinas seinen Weg
zum Studium nach Frankreich. Zu Beginn der 30er-Jahre zunächst
als Ausbilder für jüdische Lehrer tätig,
wird er zum Kriegsdienst verpflichtet und gerät 1940 in
Kriegsgefangenschaft. Bis Kriegsende verbleibt er in einem
Speziallager
für jüdische Kriegsgefangene in der
Lüneburger Heide. Als er erfährt, dass unter den
Opfern des Holocaust auch seine Eltern, seine Geschwister und
weitere
Familienangehörige sind, beschließt er, nie wieder
deutschen Boden zu betreten. Die Auseinandersetzung mit dem Grauen
der
Vernichtung der europäischen Juden wird fortan zu einem
zentralen Angelpunkt seiner Philosophie.
Salomon Malka gewährt zudem sehr persönliche
Einblicke in den Alltag des Philosophen - er zeigt sein Temperament,
seinen Humor, seine Überzeugungen und schildert
eindrücklich Lévinas' Begegnungen mit so
unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Martin Heidegger, Paul
Ricœur, Johannes
Paul
II, Jacques Derrida oder Maurice Blanchot. (C.H. Beck)
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