Maurice Blanchot: "Thomas der Dunkle"


Aufklärung ist nachweislich keine Panazee: Hochtrabende Gedankenspielereien und sprachliche Versuchsanordnungen

Die "Französische Bibliothek" des "Suhrkamp"-Verlags wurde im Oktober 2017 mit fünfzehn Titeln, darunter "Thomas der Dunkle", eröffnet. "Die Französische Bibliothek ist in Zusammenarbeit zwischen der Académie de Berlin und dem Suhrkamp Verlag entstanden. Gemeinsam wollen wir auf bedeutende, aber fast vergessene Werke der modernen französischen Literatur aufmerksam machen - die Französische Bibliothek soll dazu in einer ersten Auswahl als Kompass dienen und als Anregung, sich immer wieder aufs Neue für französische Literatur in deutscher Sprache zu begeistern. (...) Für die Französische Bibliothek haben die Mitglieder der Académie de Berlin eine erste persönliche Auswahl an größtenteils vergriffenen Büchern getroffen, die nun wieder vorliegen " - verlautbarte der Verlag zum Auftakt.

Ungläubig das unbegreifliche Nichts erkunden, wo Vernunft keine Strahlkraft besitzt: Die Macht der Worte in Theorie und Praxis

Der enigmatische Roman "Thomas der Dunkle" ist das bekannteste Werk des in Frankreich einflussreichen Dekonstruktivisten, Diskursbegründers und Autors Maurice Blanchot. Der schmale Band erschien erstmals anno 1941, im Jahr 1950 in überarbeiteter Fassung. Diese liegt der gegenständlichen Ausgabe in der "Französischen Bibliothek" zugrunde. Die kraftvolle deutschsprachige Version stammt vom Schweizer Schriftsteller und Übersetzer Jürg Laederach (geboren am 20. Dezember 1945 in Basel).

"Blanchieren" bedeutet bekanntlich "Weißmachen", doch Aufhellung war keineswegs eines der Anliegen Maurice Blanchots, sollte eventuell jemand geneigt sein, ihm aufgrund seines Familiennamens derlei zu unterstellen, und "obscur" kann als "dunkel", "finster", "seltsam", "undurchsichtig" und auch "verworren", also in gewisser Weise "der Vernunft entzogen" übersetzt werden.
Befasst man sich mit Maurice Blanchot, sieht man sich umgehend mit dessen ausgepägtem Hang zu Privatheit konfrontiert: Niemals trat er in Fernseh- oder Radiosendungen auf, ließ sich nicht fotografieren (angeblich existieren lediglich drei Aufnahmen), und private Schriften mussten seinem Wunsch entsprechend vernichtet werden. Der Autor wollte sich ausschließlich in seinem Werk verewigt wissen.
Maurice Blanchot wurde entweder am 22. September oder am 12. Dezember 1907 geboren, studierte in Straßburg und Paris Philosophie und Literatur und war bei verschiedenen Zeitschriften tätig. Er publizierte essayistische Texte und verfasste auch als Kritiker vielbeachtete Artikel. Als dunkle Stelle in seiner Biografie gilt sein Engagement für den Faschismus in den 1930er-Jahren. Mit dem in Litauen geborenen jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas (1906-1995) verband ihn eine langjährige enge Freundschaft.
Kurioses Detail am Rande: Maurice Blanchot sprach einst Einladungen an Salman Rushdie und Ayatollah Khomeini aus, bei ihm zu Hause über den Koran und Rushdies Buch "Die satanischen Verse" zu diskutieren - die Unterredung fand nicht statt.
Maurcie Blanchot starb am 20. Februar 2003.

"Thomas der Dunkle" bietet keinen gefälligen Erzähler, keine greifbare Handlung, und dennoch wird im Verlauf der Lektüre eine gewisse Sogwirkung spürbar. Die Figuren Thomas und Anne bleiben nahezu gestaltlos, sie verfügen über keine Biografie, keine Zeit, keinen Ort, Grenzgängern gleich pendeln sie zwischen Unmöglichkeiten und Verneinungen, zwischen Vernunft und Mystik. Die visionär-traumartige Prosa besteht aus Szenenfolgen, die das ambivalente Denken und das Schreiben an sich umkreisen, aus inneren Monologen, aus Schilderungen von Naturereignissen und Sinneseindrücken. Bestimmende Themen sind das Selbst und der Andere, Leben und Tod, Wahrnehmung und Bewusstsein, Sehnsüchte und Vorstellungen, Anfang und Ende, Schöpfung und Weltuntergang.

 

"(...) Ich empfinde es, indem ich es nicht empfinde, und da es nichts empfindet und nichts ist, besteht diese Absurdität aus ihrer eigenen ungeheuerlichen Substanz. Etwas völlig Absurdes dient mir als Grund. Ich fühle mich tot - nein; ich fühle mich im Leben unendlich viel toter als tot. Ich entdecke mein Sein in dem schwindelerregenden Abgrund, wo es nicht ist; Nichtvorhandenheit; in der Nichtexistenz wohnt es wie ein Gott. Ich bin nicht, und doch dauere ich; eine unerbittliche Zukunft breitet sich unendlich weit vor diesem unterdrückten Sein aus. Vor der sie mitschleppenden Zeit wandelt sich die Hoffnung in Entsetzen. Alle Gefühle strömen aus sich selbst heraus, und zerstört sowie abgeschafft stürzen sie in dem Gefühl zusammen, das mich durchströmt, das mich erschafft und abschafft und mich, mittels gänzlicher Abwesenheit von Gefühl, meine Wirklichkeit in Form des Nichts grauenvoll spüren läßt. Ein Gefühl, das Angst heißen mag und das ich so nenne. Da ist denn die Nacht. (...)" (S. 102, 103)

Mit "Thomas der Dunkle" hat Maurice Blanchot keinen leicht bekömmlichen Allerweltstext geschaffen, sondern ein kleines obskures Kunstwerk, das zum Sinnieren, Definieren und Nachhallenlassen einlädt. Der Schlusssatz lautet: "Auch Thomas betrachtete diese Flut roher Bilder, und dann, als er an die Reihe kam, stürzte er sich hinein, aber traurig, verzweifelt, als hätte die Scham für ihn begonnen."

(kre; 11/2017)


Maurice Blanchot: "Thomas der Dunkle"
(Originaltitel "Thomas L'Obscur")
Übersetzt von Jürg Laederach.
Suhrkamp, 2017. 115 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz"

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