Laurent Binet: "Die siebte Sprachfunktion"
Wurde
Roland Barthes ermordet, um die Weltherrschaft zu erlangen?
Bereits in seinem Debütroman "HHhH" ("Himmlers Hirn
heißt Heydrich") ließ sich Laurent Binet von
teilweise wahren Begebenheiten zu einem mit intellektuellem
Geplänkel überfrachteten pseudo-fiktiv-realen Roman
inspirieren, der trotz wirklicher Schwachstellen (Anmerkung: die
"Operation Anthropoid", die im Mittelpunkt steht, ist in anderen
Büchern, die Laurent Binet sogar anführt,
tatsächlich besser in Szene gesetzt worden) aber in erster
Linie dank seiner Erzählweise große Hoffnung auf
zukünftige Werke dieses französischen Autors weckte.
Der "Prix Goncourt du Premier Roman" anno 2010 war eine Folge, ebenso
wie die Inkludierung in die hundert besten Romane des Jahres 2012 der
"New York Times". Nun folgt "Die siebte Sprachfunktion", die beim Tod
von Roland Barthes ansetzt, der im Jahr 1980 bei einem Unfall mit einem
Kleintransporter so schwer verletzt wurde, dass er eine Woche
später im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag.
1980 war in Frankreich ein ziemlich heftiges Jahr. Der bis dahin
glück- und erfolglose Mitterand forderte den erzkonservativen
Giscard d'Estaing im Rennen um das Präsidentenamt heraus. Der
vermeintlich unbezwingbare Björn Borg verlor bei den "US Open"
gegen den jungen Hitzkopf John McEnroe. Es wurde viel philosophiert,
und Roland Barthes war nach einem Essen mit François
Mitterand anscheinend so geistesabwesend, dass er vor das Auto eines
bulgarischen Wäschereifahrers lief.
So weit, so gut. Allerdings stürzt sich Binet auf die
scheinbar unter Verschwörungstheorien nicht abgeneigten
französischen Intellektuellen verbreitete Idee, der
berühmte Philosoph sei nicht durch einen Unfall ums Leben
gekommen, sondern in mörderischer Absicht überfahren
worden. Dieser Gedankengang bietet dem Autor die Möglichkeit,
einen Roman zu schreiben, der eine allgemein bekannte Tatsache als
Ausgangspunkt nimmt, der jedoch in jeder Hinsicht definitiv
kontrafaktisch ist. Des Weiteren stimmen noch viele andere
Gegebenheiten und Tatsachen, der Rezensent hat die meisten davon
geprüft. Doch auch hier lässt Binet seine Fantasie
walten und spielt die Variante "Was wäre wenn?" durch.
Er schafft einen Kommissar her (eigentlich ein Ermittlerpaar), den er
im Umfeld der allesamt berühmten Philosophen der Zeit
ermitteln lässt. Derrida, Althusser, Kristeva, Soller,
Foucault, Chomsky
und Jakobson kommen alle vor. Ebenso wie
Umberto
Eco, Françoise Sagan und Isabelle Adjani.
In dieser poststrukturalistischen Welt wird der Leser selbst zu einer
Art Detektiv. Man muss schon bewusst auf die hinterlegten Spuren
achten, wenn man in diesem Roman mehr als die gedruckten
Wörter verstehen will. Man sollte die Ideen und Schriften von
Roland Barthes wahrscheinlich extrem gut kennen, will man alles
verstehen. Einige Aspekte, wie die "erotische Beziehung" zum Text per
se, sind, kennt man "Fragmente einer Sprache der Liebe", leicht zu
deuten. Die narrative Struktur als geschlechtliche Beziehung zwischen
Leser und Text, beispielsweise. "Mythen des Alltags" sollte man auch
kennen, da der allseits gegenwärtige "Citroën DS",
der immer wieder auftaucht, quasi um jede Ecke biegt, nicht als
Schleichwerbung postiert ist, sondern eben ein "Mythos des Alltags".
Dass man es, bei allem philosophischen Hin und Her, mit einem
waschechten Krimi zu tun hat, der immer wieder ins Satirische
abdriftet, tut dem Roman wirklich gut, weil so der Lesefluss immer
schön am Laufen bleibt und nicht im intellektuellen
Geplänkel versandet. Das hat Laurent Binet in "Die siebte
Sprachfunktion" wirklich viel besser im Griff als in "HHhH".
Hörsäle, Pariser Cafés und
Männersaunen. Überall wird ermittelt,
überall steckt man als Leser mitten im Geschehen. Die
Schauplätze der einzelnen Szenen und Abschnitte wechseln
teilweise hektisch. Von der Cornell Universität bis Venedig
wird man geschleift, und wenn man dann schon in Italien ist, gleich
auch zu Umberto Eco nach Bologna, weil man sich von ihm Hilfe bei der
Entschlüsselung der "siebten Sprachfunktion" erhofft, die
allgemein eigentlich die große Gejagte in diesem rasanten
Roman darstellt. Barthes soll diese siebte Sprachfunktion nach Roman
Jakobson (der nur sechs Funktionen beschrieben hat) entdeckt haben, die
es demjenigen, der sie beherrscht, möglich machen soll, die
Welt zu beherrschen. Ein mögliches Motiv für einen
Mord an Roland Barthes? Natürlich, wer will nicht die Welt
beherrschen? Die Frage ist nur: Was steckt in dieser fiktiven Welt von
Laurent Binet wirklich dahinter?
Kongenial übersetzt von Kristian Wachinger, ist "Die siebte
Sprachfunktion" zumeist ein absolut unterhaltender und ausgezeichnet
geschriebener Roman, der dennoch Längen aufweist. Passagen, in
denen Binet einfach extrem übertreibt. Speziell, wenn er die
Zurschaustellung intellektueller Fähigkeiten nicht rechtzeitig
abbricht. Was im Bereich der Philosophie kein Thema darstellt, ist in
einem Roman nicht in der Form notwendig, weil nicht jeder Leser ein
Doktor der Philosophie
mit Spezialgebiet "Frankreich, 2.
Hälfte des 20. Jahrhunderts" ist. Das geht mitunter so weit,
dass man an der einen oder anderen Stelle einfach eine ausgedehnte
Pause braucht. Nichtsdestotrotz, summa summarum, ausgezeichnet,
unterhaltend, hochliterarisch und zumeist tatsächlich ein
Genuss. Die passenden Werke von Derrida, Barthes und Co. sollte man
jedoch in greifbarer Nähe haben.
(Roland Freisitzer; 02/2017)
Laurent
Binet: "Die siebte Sprachfunktion"
(Originaltitel "La Septième Fonction du Langage")
Übersetzt von Kristian Wachinger.
Rowohlt, 2016. 524 Seiten.
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Laurent
Binet wurde 1972 in Paris geboren und hat in Prag Geschichte studiert.
Ein weiteres Buch des Autors:
"HHhH"
Himmlers Hirn heißt Heydrich.
Beim Spaziergang durch Prag entdeckt Laurent Binet eine Gedenktafel
für tschechische Widerstandskämpfer. Sie versteckten
sich nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich in einer Kirchenkrypta -
bis ihre Verfolger, deutsche Soldaten, diese fluten ließen.
Binet ist so elektrisiert von dieser Begebenheit, dass er
beschließt, nach
Prag
zu ziehen und ihr nachzugehen. Er schreibt die NS-Geschichte als
Groteske und kommt dabei immer wieder auf seine Rolle als Nachforscher,
Erzähler und Erfinder zurück. Gibt es
überhaupt eine historische Wahrheit? Und wie kann man
über sie schreiben? Ausgezeichnet mit dem "Prix Goncourt du
Premier Roman". (rororo)
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