Lorenz Jäger: "Walter Benjamin"
Das Leben eines Unvollendeten
Walter
Benjamin - mehr als ein Medientheoretiker
Wer sich heute mit der medialen Verbreitung von Kunstwerken, mit der
Philosophie der Originalität und des Plagiats oder ganz
schlicht mit der Gedankenwelt der "kopieren &
einfügen"-Generation befasst, wird früher oder
später auf das bekannteste Werk von Walter Benjamin
(1892-1940), "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit", stoßen. Als "Schicksalsstunde der Kunst"
kündigte der Autor den Essay seinem Philosophenkollegen Max
Horkheimer an. Berühmt wurden die Schlussworte des Essays
über die "Ästhetisierung der Politik, die
der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit einer
Politisierung der Kunst." Als er ihn im Herbst 1935
veröffentlichte, war der deutsche Nationalsozialismus seit
mehr als zweieinhalb Jahren an der Macht und Benjamin bereits im
Pariser Exil. Fünf Jahre später war er tot; er hatte
sich nach einem gescheiterten Fluchtversuch an der
französisch-spanischen Grenze das Leben genommen.
Bereits Walter Benjamins Geburtsjahr 1892 ist vom Schicksal seiner so
unterschiedliche Leben führenden Altersgenossen nicht zu
trennen. Es verbindet ihn mit dem spanischen Generalissimus und
faschistischen Diktator Francisco Franco und mit dem kommunistischen
Partisanenfüher und späteren Staatschef Josip Broz
Tito, mit dem von den Nationalsozialisten verfolgten Theologen Martin
Niemöller und mit dem als Kriegsverbrecher hingerichteten
Arthur Seyß-Inquart sowie mit dem umstrittenen Engelbert
Dollfuß, der den Einen als Antidemokrat und den Anderen als
erstes österreichisches Opfer des Nationalsozialismus
gilt.
Dem deutschen Soziologen, Germanisten und Journalisten Lorenz
Jäger ist die Gleichzeitigkeit der zeitenthobenen
Allgemeingültigkeit von Walter Benjamins Philosophie und die
zeitliche Verortung in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wohl
bewusst - und Stilmittel zur Darstellung eines vielfältigen
Lebens. Sein Werk baut auf dem Gegensatz zwischen der chronologisch und
aufbauend informierenden Biografie und der zeitgleich angenommenen
Vermutung, dass der Leser schon über Walter Benjamins Leben,
Wirken und Lebensende informiert ist.
Wenn er über Walters Geschwister schreibt, ist bereits deren
früher Tod im Konzentrationslager Mauthausen beziehungsweise
im Exil präsent; seine Lehrer sind im Bewusstsein ihrer
späteren Leistungen als Reformpädagogen (und
sexueller Verfehlungen) von Bedeutung. Paris, die Stadt, in der sein
Vater erste Berufserfahrungen sammelte, war Lebensthema und der letzte
Ort, an dem der Sohn berufliche Anerkennung fand.
Walter
Benjamins
Leben entzieht sich dadurch in Lorenz
Jägers Darstellung den üblichen Abfolgen von der
Geburt über Jugend, Studium bis zu Familiengründung
und beruflichen Karrierestationen, wohl auch deshalb, weil eine
Karriere im herkömmlichen Sinn höchstens im
Rückblick und vor allem in der posthumen, späten
Rezeption erkennbar ist. Zu seinen Lebzeiten prägten ihn und
prägen diese Biografie Begegnungen, vielleicht auch
Freundschaften mit Menschen, ohne die das 20. Jahrhundert geistig
ärmer wäre: mit dem jüdischen Gelehrten und
Mystiker Gershom Scholem, mit dem deutschen Dramatiker Bertolt
Brecht, der Philosophin Hannah Arendt und vielen Anderen. Und
auch Begegnungen mit Drogen
und der berauschend
lebensverändernden Avantgarde in Wort und Bild und allem was
Dadaisten dazwischen fanden.
Hätte hier ein bürgerliches Leben Platz, oder
vermeidet der Biograf ganz bewusst und konsequent Schilderungen aus dem
Alltag Benjamins? Eine Zeittafel mit den wichtigsten Lebensstationen
hätte Orientierung ermöglicht und die
Lektüre der 28 Kapitel unterstützt.
Der erfolgreiche Feuilletonist Lorenz Jäger schrieb jedes von
ihnen als essayhaftes Lebensbild, als Facette eines zerrissenen Lebens,
das auch für sich gelesen werden kann und soll. (Dabei ein
biografisches Lexikon der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte in
Griffweite zu haben, schadet nicht!) Die Biografie vermag erfolgreich
Einsichten in den geistigen Reichtum einer Welt von gestern zu geben,
deren Morgen und Übermorgen uns bis heute prägen.
(Wolfgang Moser; 06/2017)
Lorenz
Jäger: "Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten"
Rowohlt Berlin, 2017. 395 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen