Attila Bartis: "Das Ende"
Die
unerträgliche Leichtigkeit der Düsternis
Der 1968 in Marosvásárhely im
rumänischen Siebenbürgen geborene Attila Bartis ist
ausgebildeter Fotograf und seit 1995 Schriftsteller. Seit 1984 lebt er
in Budapest und in vergangenen Jahren auch auf Java.
Neben Prosa und Essays hat er ein Fotobuch und einen
Gesprächsband mit dem Dichter István
Kemény publiziert.
"Das Ende" ist nach "Der Spaziergang" und "Die
Ruhe" der dritte ins Deutsche übersetzte Roman des
Autors. Dass Attila Bartis fünfzehn Jahre an diesem Roman
gearbeitet hat, merkt man in erster Linie daran, dass er so
vielschichtig und zeitlos ist, obwohl er sich eines sehr konkreten
Zeitrahmens bedient.
Der Ich-Erzähler dieses Romans ist ein gewisser
András Szabad, mit dem der Autor zumindest das Fotografieren
teilt. Drei Personen sind es, die das Leben des Protagonisten
entschieden hätten, wie er meint: Juri Gagarin,
János Kádár und der Vater des
Ich-Erzählers. Warum das so ist, erfährt man im Lauf
der 752 Seiten dieses großartigen Romans, der trotz seiner
Länge kein episches, breit gefächertes Monumentalwerk
ist. Keine große Leinwand also, sondern ein Graben in
Erinnerungen an den Vater, die Mutter, die Gräfin und die
Lieben bzw. Geliebten des Erzählers. Dass bei einem Roman,
dessen erster einschneidender Moment die Verhaftung des Vaters nach den
Aufständen von 1956 ist, die Politik eine gewichtige Rolle
hat, ist unvermeidbar. Allerdings ist "Das Ende" nicht einfach ein
Roman über die repressive kommunistische Politik hinter dem
Eisernen Vorhang. Es ist eher so, dass die Politik quasi die
unsichtbaren Fäden gezogen hat, einfach weil die Geschichte
unter diesen Umständen nicht anders hätte sein
können. Dadurch entsteht sogar fast der Eindruck einer
gewissen Untertreibung, welche die Wirkung dieses grandiosen Texts noch
weiter verstärkt.
Zu Beginn erfährt man, dass der Ich-Erzähler auf dem
Weg zum Flughafen ist, um nach Stockholm zu fliegen, wo er sich
untersuchen lassen will. Man erfährt, dass er Fotograf ist.
Bekannt, sehr sogar. Und dass er seit zwei Jahren nicht mehr
fotografiert. Seit Éva gestorben ist. Aufgrund von
Andeutungen versteht man, dass András Szabad eine Diagnose
bekommen hat, die höchstwahrscheinlich nichts Gutes
verheißt. Offensichtlich fliegt er nach Stockholm, um diese
Diagnose entweder widerlegt oder bestätigt zu bekommen.
Kornél, sein, wie sich herausstellen wird, Lebensfreund, hat
ihm geraten, sein Leben niederzuschreiben, um zu verstehen, um
Antworten auf die Fragen zu erhalten, die den Ich-Erzähler
quälen.
Die erste Aufzeichnung stammt aus dem Jahr 1960 und
beschäftigt sich mit der Ankunft des jungen András
mit seinem Vater in Budapest, wohin die beiden nach dem Tod der Mutter,
die kurz nach der Freilassung des Vaters gestorben war,
übersiedelt waren.
"Aus jener Zeit erinnere ich mich eigentlich nur an die
Dunkelheit. Oder eher an die Trübe. Genau drei Jahre waren in
der gleichen Trübe vergangen, in der mein Vater und ich am
teerstinkenden Keleti-Bahnhof ankamen. Vollkommen
gleichgültig, ob es am Morgen hell wurde, das Licht machte das
Tiefgraue nur sichtbarer. Das war eine andere Art Dunkelheit als die,
in der die zurückliegenden drei Jahre vergangen waren."
Vater und Sohn bemühen sich, in
Budapest Fuß zu
fassen. Der Vater darf seit der Entlassung nicht mehr im Bereich der
Erziehung arbeiten und wird Lagerist in einer Gummifabrik. Die
Düsternis dieser Zeit, in der András erwachsen
wird, seine ersten Liebschaften hat, zu seiner fotografischen Berufung
findet, ist von Attila Bartis zutiefst poetisch, melancholisch und
dennoch kraftvoll festgehalten. Da spürt man in jedem Satz,
dass ein Schriftsteller am Werk ist, der nicht nur alle Register
literarischen Könnens ziehen kann, sondern der auch seine
visuelle Vorstellungskraft optimal einsetzt. Und das betrifft nicht nur
die Abschnitte, in denen Fotografisches beschrieben wird. Es wirkt sich
zumeist in der Art zu erzählen aus, die ohne je deskriptiv zu
sein, ungeheuer bildhaft ist.
"Ich wusste, dass er nie wieder in die Wohnung
zurückkommen würde. Dass all das einfach nicht mehr
ihm gehörte. Ich konnte ruhig jede Schublade öffnen,
ich konnte sogar in den Ofen schauen. Ich konnte die Tür
zwischen den beiden Zimmern öffnen. Den Apfel in den
Müll, die Dickmilch in die Spüle.
Kádár hebe ich auf. Flieg, so weit du willst,
Gagarin, so allein wie auf der Erde, im Zimmer deines Vaters, kannst
du
nirgends sein. Den Apfel in den Müll, die Dickmilch in die
Spüle. Es wurde schon Morgen. Ich konnte immer noch nicht
heulen. Und dann sah ich endlich seinen Ehering neben der
Nachttischlampe liegen."
András Szabad ist ein ambivalenter Protagonist, der sich
einerseits politisch bedeckt hält, andererseits ein absolutes
Außenseiterdasein fristet. Er bricht die Schule ab und findet
eine Anstellung in einem Fotolabor, wo er die Grundlagen des
Fotografierens und der Technik des Entwickelns lernt. Im Mittelpunkt
der Erzählung stehen aber seine Beziehungen zu ihm nahen
Menschen. Zu seinem Vater, einigen unterschiedlich wichtigen
Liebschaften und letztendlich zu Éva, die sich als Liebe
seines Lebens herausstellt. Sowohl in der Beziehung zu seinem Vater,
als auch im Umgang mit den Frauen in diesem Roman zeigt sich die
zerrissene Natur des Protagonisten. Wirkliche Nähe
lässt er nicht zu, trifft dabei aber auch, vor allem in der
Liebe, auf ähnlich gesinnte Damen. Immer wieder hält
seine Kamera Momente fest, die in Wahrheit eine fast eigene erotische
Ebene bilden.
Der Protagonist wird ein berühmter Fotograf, vom Regime
umworben und begünstigt. Auch das setzt ihm zu. Irgendwie ist
der Protagonist ein Verlorener zwischen den Welten. Zwischen dem
kommunistischen und dem postkommunistischen Ungarn findet er doch nie
einen Platz außer dem, den er sich in der Wohnung, die er mit
seinem Vater geteilt hat, geschaffen hat.
Immer wieder springt Attila Bartis zwischen den Jahren und Jahrzehnten
hin und her, eine lineare, chronologische Erzählung ist "Das
Ende" definitiv nicht. Dabei schafft er es, alles ruhig so
auszubreiten, dass man als Leser fast meint, den Roman wie ein
"Polaroid"-Foto zu sehen, das langsam vor den Augen zu einem Gesamtbild
aufgeht.
Dieser Roman trifft seine Leser ohne je auch nur im Ansatz pathetisch
zu sein. Unbeeindruckt wird dieses Buch sicherlich niemand zur Seite
legen. Und leichte Lektüre ist "Das Ende" sowieso nicht. Die
Prosa des Autors ist so präzise, gefeilt, nüchtern
und zugleich poetisch, dass es eine wahre Freude ist, diesen Roman zu
lesen, obschon er so tief in der Düsternis verankert ist. "Das
Ende" ist einerseits eine emotionale Achterbahnfahrt und gleichzeitig
aber ein so tiefgehender, ästhetisch-künstlerischer
Genuss der Sonderklasse. Es gibt so viele, unendlich schöne,
mitunter auch traurige Szenen, die der Rezensent gerne hier zitiert
hätte: wie beispielsweise jene Szenen, in denen Bartis das
Aufeinandertreffen und Kennenlernen von András und
Éva beschreibt.
Doch waren es am Ende viel zu viele, was den Rahmen hier gesprengt
hätte.
Auch die erotischen Szenen von Bartis haben diesen unendlich
melancholischen Beigeschmack, den eigentlich, wenngleich auf andere Art
und Weise, zum Beispiel Milan
Kundera oder Ivan
Klíma hatten.
Von Terézia Mora kongenial übersetzt, ist "Das
Ende" von Attila Bartis ein wunderbarer, tiefgehender und
melancholischer Roman, den man, hat man einmal im Rhythmus des Autors
Fuß gefasst, nicht mehr aus der Hand legen will. Ein Roman,
bei dem der traurigste Moment dann letztendlich das Erreichen der
letzten Seite ist. Für diesen Rezensenten ohne Zweifel das
Buch des Jahres 2017.
(Roland Freisitzer; 11/2017)
Attila
Bartis: "Das Ende"
(Originaltitel "A vége")
Aus dem Ungarischen von
Terézia
Mora.
Suhrkamp, 2017. 752 Seiten.
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