Miklós Bánffy: "In Stücke gerissen"
Das
Menetekel Siebenbürgens
1909 kehrt nach längerer Abwesenheit Graf Bálint
Abády, Abgeordneter im Budapester Parlament, ins heimatliche
Klausenburg (ungarisch Koloszvár, rumänisch Cluj),
das kulturelle Zentrum der Ungarn im vielsprachigen
Siebenbürgen, zurück. Gleich am ersten Abend trifft
er im Theater auf Adrienne, seine frühere Geliebte, und
beginnt eine neuerliche fragile Beziehung, die von der Geisteskrankheit
ihres Mannes und von Bálints nicht wahrgenommener
Einheiratungschance in eine reiche westungarische Familie
überschattet wird.
Während sich Bálint um sein herrschaftliches Gut
und besonders die edlen Pferde kümmert, ist er mit
Schicksalsschlägen in seiner Verwandtschaft und Bekanntschaft,
der ungarischstämmigen Hocharistokratie des Landes,
konfrontiert. Sein Freund verzweifelt an seinen eigenen
Ansprüchen gegenüber Familie, Pferd und Adelsstand
und begeht Selbstmord - nicht ohne bis ins kleinste Detail
Verfügungen für die Zukunft zu treffen. Ein verarmter
Cousin gibt sich der Trunksucht und Hurerei hin; sein Schloss hat er
verspielt, jetzt lebt er im Gesindehaus und stellt in seinem ehemals
herrschaftlichen Wald Kaninchenfallen auf. Nach ihrer Flucht aus dem
adeligen Haus begleitet dessen Mutter eine dubiose Tänzerin
durch die Etablissements in den Hauptstädten Europas. Die Tage
verfließen auf Bällen, bei Besuchen in
Gestüten und auf Fahrten durch die Ländereien - im
Automobil und selbstverständlich mit Chauffeur. Manches
Geschehen ist witzig, tragisch-komisch, wie zum Beispiel der Besuch
eines französischen Verfechters der Anti-Duell-Liga, dessen
örtlicher Vertreter noch am selben Abend eine
lächerliche Ehrenbeleidigung ausficht.
Als liberaler Intellektueller und idealistischer Politiker versucht
Bálint zu vermitteln, einen zukunftsweisenden Weg
für sein Land zu finden. Ihm gelingt wider jede
nationalistische Position eine überraschende Wende im
Rechtsstreit zwischen einem korrupten Komitatsnotar und einem greisen
rumänischen Bergbauern, "denn man muss die Fehler
von Jahrzehnten wiedergutmachen. Viel Hass hat sich angesammelt. Auch
den muss man überwinden. Man muss!" (Seite 293).
Sein Ruf bleibt ungehört; in seiner engeren Umgebung ebenso
wie im ungarischen Parlament, wo sich Regierung und Opposition
gegenseitig blockieren, obwohl ohnehin nur die dünne
Oberschicht zur Wahl zugelassen ist.
Die Regierungen in Budapest und Wien sehen die weltpolitische Lage in
den Jahren der Balkankriege 1911 bis 1913 und der Entstehung neuer
Nationalstaaten südöstlich der Doppelmonarchie sowie
des Wettrüstens vor 1914 nur als Bühne zur eigenen
Selbstdarstellung; der ungarische Ministerpräsident
László Lukács tritt wegen finanzieller
Ungereimtheiten zurück, sein Nachfolger Graf István
Tisza duelliert sich wegen parlamentarischer Ehrenbeleidigungen mit
zahlreichen anderen führenden Politikern, auch mit einem
seiner Amtsnachfolger.
... bis im Sommer 1914 der Krieg ausbricht. Wehmutsvoll blickt Graf
Bálint Abády auf dem Weg zu seiner Heereseinheit
von einer Passhöhe ein letztes Mal über die
siebenbürgische Heimat.
Miklós Bánffy, der selbst aus
Siebenbürger Adel stammte und seit 1901 Abgeordneter im
ungarischen Parlament war, beschreibt die letzten Jahre vor dem
Ausbruch des Ersten Weltkriegs, dem die Aufteilung Ungarns im
Friedensvertrag von Trianon (1920) folgte. Damals wurde die
Fläche des früheren Königreichs Ungarn auf
ein Drittel reduziert, die Jahrhunderte alten Grenzen wurden
ausnahmslos zuungunsten Ungarns verschoben, auch rein ungarische
Gebiete fielen an die Nachbarstaaten, auch das
geschichtsträchtige Siebenbürgen an
Rumänien. Der Großgrundbesitzer, Politiker und Autor
selbst war nach dem Ersten Weltkrieg, 1921/22, Außenminister
des kleineren Ungarn, nahm aber 1926 schließlich doch die
rumänische Staatsangehörigkeit an, um seine jenseits
der neuen Grenzen liegenden Güter nicht zu verlieren.
1940, zur Zeit der Herausgabe des ungarischen Originals, erinnerten
sich noch zahlreiche Menschen an die politischen und gesellschaftlichen
Geschehnisse einer oberflächlich Belle Époque
genannten Zeit. Als literarischer Chronist und politischer Literat
beschreibt Bánffy detailreich auch das weltpolitische
Geschehen, schildert entsetzt das Unverständnis der
Herrschenden und nennt Ortsnamen, die heute und außerhalb
Ungarns niemand mehr kennt. Der habilitierte Historiker und
Übersetzer Andreas Oplatka übertrug den Text
einfühlend in die Sprache der Epoche; Unbekanntes
erläutert er im konzisen Nachwort und im umfangreichen
Glossar. Wer den Text auch als historisches Dokument lesen will und
mehr über diese Zeit in den östlichsten Komitaten des
königlichen Ungarn während der letzten Jahre der
Monarchie wissen möchte, dem sei als parallele
Lektüre ein Sachbuch zur
ungarischen Geschichte empfohlen,
z.B. Paul Lendvais "Die Ungarn. Ein Jahrtausend Sieger in Niederlagen"
(Bertelsmann 1999 bzw. als Goldmann-Taschenbuch 2001).
"In Stücke gerissen", der dritte und dramatischste Teil
der
Siebenbürger Geschichte des ungarischen Adeligen
und Politikers Miklós Bánffy, ist definitiv kein
Reißer. Kann es nicht sein und darf es nicht sein! Die
ungarischen Originaltitel der ersten beiden Bände lauten "Du
wurdest gewogen" ("Megszámláltattál",
deutsch "Die Schrift in Flammen") und "Du wurdest für zu
leicht befunden" ("És hijjával
találtattál", deutsch "Verschwundene
Schätze"). Mit dem dritten Titel, "In
Stücke gerissen" ("Darabokra szaggattatol"), ergibt dies den
Menetekelspruch aus dem alttestamentlichen Buch Daniel (5, 1-30). Dem
babylonischen Kronprinzen Belsazar
wird der Niedergang und die Zerstörung seines Reiches
vorhergesagt.
Bei Niederschrift des Romans, 1940, war Siebenbürgen
kurzfristig wieder ungarisch, doch ein neuer, noch grausamerer Krieg
sollte den Spruch des Menetekels bestialisch Wahrheit werden lassen.
(Wolfgang Moser; 01/2017)
Miklós
Bánffy: "In Stücke gerissen"
(Originaltitel "Darabokra szaggattatol")
Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Andreas Oplatka.
dtv, 2016. 397 Seiten.
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