Nadeem Aslam: "Die goldene Legende"


Die Fesseln der Religion

Der 1966 im pakistanischen Gujranwala geborene Nadeem Aslam, der seit 1980 in Großbritannien lebt, ist neben Kamila Shamsie der wahrscheinlich wichtigste englischsprachige Schriftsteller Pakistans. Die politisch und religiös motivierten Gewaltexzesse in Pakistan und der Region um Pakistan ziehen sich in irgendeiner Art und Weise durch alle seine Bücher, ohne dass diese auch nur annähernd auf die politische Aussage reduziert werden könnten. Denn Aslam ist ein Schriftsteller allerhöchster Güte, der die sogenannte dramatisch-erzählerische Pranke besitzt, die so vielen aktuellen Autoren abhandengekommen zu sein scheint.
Immer steht die Erzählung im Mittelpunkt, die epische und emotionale Wucht, ohne je effekthascherisch oder gar platt und aufgesetzt zu sein. Nach "Atlas für verschollene Liebende, "Das Haus der fünf Sinne" und "Der Garten des Blinden" erscheint nun also sein neuester Roman "Die goldene Legende" in deutscher Sprache. Nur sein erster Roman "Season of the Rainbirds" ist bis heute leider noch nicht ins Deutsche übersetzt.
Jeder Roman dieses Autors ist noch besser als der vorige, was in diesem Fall wirklich viel bedeutet, denn wer "Atlas für verschollene Liebende" gelesen hat, weiß, was das bedeutet. Mit "Die goldene Legende" hat sich Aslam noch einmal übertroffen und sein bisheriges Opus Magnum abgeliefert.

An einem Schusswechsel in der Grand Trunk Road in Zamana, das in der nördlichen Ecke des Landes liegt, umgeben von Kashmir, Tadschikistan und Afghanistan, zerbricht das Leben der Architektin Nargis. Ihr Mann und Architektenkollege Massud wird versehentlich von den Kugeln eines US-Amerikaners getroffen und stirbt wenig später im Krankenhaus. Durch diese tragische Wendung kommen Dinge ins Rollen, die eine besonders dramatische Kettenreaktion auslösen. Die aus einer christlichen Familie stammende Nargis, die eigentlich Margaret getauft wurde, hat in ihrer Schulzeit durch einen Zufall den moslemischen Namen Nargis angenommen, um den Peinigungen und Problemen zu entgehen, denen die christlichen Bürger Zamanas ausgesetzt sind. Sie hat ihrem Mann nie ihr Geheimnis gestanden. Nach seinem Tod übernimmt sie allein die Rolle der Ziehmutter von Helen, der Tochter ihrer christlichen Bediensteten.

Der Geheimdienst verfolgt nun Nargis, um sie dazu zu bringen, dem us-amerikanischen Mörder ihres Mannes öffentlich zu vergeben, weil sich die pakistanische Regierung davon einen großen Gewinn verspricht. Zuerst bietet man ihr eine Million Dollar dafür, und als sie das ablehnt, geht der Geheimdienstoffizier zu brutaler Gewalt über. Es ist schnell klar, dass all jene, die sich nicht dem Regime beugen, in größter Gefahr schweben. Ein Menschenleben ist in dieser Welt der Korruption und Gewalt nichts wert. Schon gar nicht das einer Frau.
Zusätzlich dringt seit einiger Zeit jemand in die Moscheen der Stadt ein und verkündet lautstark die Geheimnisse der Bürger der Stadt, was dazu führt, dass die Bevölkerung im Sinn der islamischen Gesetze Lynchjustiz verübt.

Auch Helen befindet sich in ständiger Gefahr, weil ihre journalistischen Texte längst auf dem Radar der fanatischen Islamisten aufscheinen, die darauf aus sind, alle Christen aus der Region und dem Land zu vertreiben. Helen verliebt sich in Imran, einen jungen Mann, der über Schicksalsschläge zu den militanten Islamisten gestoßen und von dort unter Gefährdung seines Lebens geflohen ist nachdem er verstanden hat, welche Pläne diese Gruppierung verfolgt. Er ist überhaupt nur dort gelandet, nachdem die Schergen der Regierung seine Mutter verschwinden ließen und seinen Bruder auf unfassbar brutale Weise töteten. Als Protest gegen die Regierung gedacht, sieht er schnell, dass auch das keine Alternative darstellt. Nachdem Helen ein Attentat auf die Redaktion der Zeitung, für die sie Artikel schreibt, nur durch glückliche Fügung überlebt, fliehen die Liebenden auf eine verlassene Insel, auf der Massud und Nargis vor einiger Zeit eine Moschee gebaut haben.

Es ist wirklich beeindruckend, wie Nadeem Aslam die zynische, korrumpierte Machtausübung der Regierung mit den Auswüchsen des religiös motivierten Terrorismus zu einem nicht mehr trennbaren Ganzen verwebt. All das vor dem Hintergrund der Blasphemie-Gesetze Pakistans, die es jedem erlauben, seinen Nachbarn wegen Gotteslästerung zu denunzieren. Die Bestrafung, natürlich ohne Prozess, wird umgehend ausgeführt, und die Denunzianten erhalten zum Dank den Besitz des Denunzierten.

Jene Szenen, die Nadeem Aslam in seinem Roman zeichnet, verursachen in ihrer Härte und kühlen, fast Untertreibungen gleichenden Schilderungen, schlicht Schmerzen, fügen sich aber harmonisch ins Geschehen ein. Das ist die Welt, in der die Protagonisten leben. Das sind die Bedingungen, die ihr Leben gefährden. Hier gibt es nichts zu beschönigen, denn das, was passiert, muss aufgezeichnet und festgehalten werden.

Der Rezensent weist darauf hin, dass er hier nur einen kleinen Bruchteil der wichtigen Ereignisse in diesem Roman skizziert hat.

Der Autor treibt seine Figuren an, lässt sie allen Widrigkeiten zum Trotz nie hängen, sieht die Zwischentöne, welche die Gefahr, es sich hier möglicherweise zu einfach zu machen und ein Schwarzweißbild zu zeichnen, von vornherein ausschließen. Das ist schlicht und ergreifend große Kunst, die an die großen Romane Tolstois erinnert, natürlich ohne dass hier eine stilistische Ähnlichkeit bestünde.

Der Roman ist von der ersten bis zur letzten Zeile dramaturgisch spannend, und Aslams Zeitsprünge, welche die Vergangenheit der Protagonisten und der Region beleuchten, sind so kongenial eingebaut, dass man von einem wahren Meisterwerk sprechen muss. Man versteht die Beweggründe der Protagonisten, man versteht die Situation und sieht die Zusammenhänge mit den Problemen, welche die ganze Region und mittlerweile die ganze Welt in Angst und Schrecken versetzen. Seine leuchtende und abwechslungsreiche Prosa, welche die Gegenpole Schönheit und Schmerz bestechend zu einer Symbiose vereint, von Bernhard Robben wie immer grandios übersetzt, steht stets im Dienst der Erzählung per se, die, egal wie verzweigt die erzählerischen Fäden gerade sind, nie die Richtung verliert. So atmet der Roman von Anfang an epische Breite und hat doch keine Leerstellen.

Es ist schlichtweg unverständlich, dass dieser Roman von der diesjährigen "Man Booker Prize"-Jury übersehen werden konnte, obschon eine Nominierung für einen bedeutenden Buchpreis natürlich nichts über die Qualität eines Romans sagt. Das Fehlen gewisser Bücher ist allerdings bezeichnend für die Unvereinbarkeit demokratischer Entscheidungen und künstlerischem bzw. konkret hier literarischem Wert in wettbewerbsähnlichen Situationen.

Doch zurück zum Roman selbst. "Die goldene Legende" ist einer der ganz großen Romane der letzten Jahre, einfach weil er unbeschreiblich gut erzählt ist, weil er eine packende, emotionale, politisch wichtige, aufklärende, sinnvolle und wundervolle Geschichte erzählt, die unfassbar schön und extrem traurig zugleich ist, weil er zeigt, was literarisch möglich ist, wenn man aufs Ganze geht, ohne sich von der Mode leiten zu lassen.
Das ist Literatur, wie sie heute fast nicht mehr geschrieben wird, die aber trotzdem hochaktuell ist. Man kann nur hoffen, dass dieser Roman auch im deutschsprachigen Raum eine große Leserschaft findet.

(Roland Freisitzer; 09/2017)


Nadeem Aslam: "Die goldene Legende"
(Originaltitel "The Golden Legend")
Aus dem Englischen von Bernhard Robben.
DVA, 2017. 416 Seiten.
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