Vicente Alfonso: "Die Tränen von San Lorenzo"


Wahrheitssuche in Mexiko

Ein Therapeut nimmt einen Zwilling mit dem Namen Remo als Patienten an - ohne dass danach jemals im Verlauf des Romans die beiden namensgebenden historisch-mythologischen Vorbilder erwähnt werden, nachdem man erfährt, dass der andere Zwillingsbruder Rómulo heißt.

Remo berichtet "seinem" ich-erzählenden Therapeuten von seiner Kindheit und Jugend als Gehilfe eines Zauberers, der sich die beiden Zwillinge für seine Tricks zunutze machte, bis einer der beiden schließlich bei einem Bühnenunfall das Zeitliche segnete. Oder tat er es?

Sicher ist, dass Remo schließlich an einem Baum aufgehängt gefunden wird, in dessen Wurzeln sich die Leiche Rómulos befindet. Der Weg dahin ist es, der den Therapeuten zum Schreiben veranlasst hat - und zum Bruch seiner ärztlichen Schweigepflicht, denn um Remo scheinen sich ständig ungewöhnliche Ereignisse und insbesondere Mordfälle zu gruppieren. Aber ist der Patient wirklich glaubwürdig? Ein einmaliger Besuch des zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Rómulo lässt das schnell zweifelhaft erscheinen. Und auch weitere Ermittlungen des Therapeuten - zum Teil in Zusammenarbeit mit der Polizei - lassen immer mehr Zweifel aufkommen. Besonders dann, wenn er sich im Interview mit angeblich vor Jahren ermordeten Personen befindet.

Was ist Wirklichkeit? Und wie schaffen wir durch Fabulieren über unsere eigene Biografie einen Teil unserer eigenen Identität - insbesondere in Abgrenzung zu einem eineiigen Zwilling?

Die Thematik ist nicht neu, wenn man sie in unseren Breiten auch nicht unbedingt in einer mexikanischen Stadt suchen würde. Diese bringt - neben einer ungesunden Neigung zum Fußball - auch noch eine sehr ausgefallene Form des Katholizismus mit sich, in dem sich die Landbevölkerung beständig ihre eigenen Heiligen aus ihren eigenen Reihen schafft, um diesen dann allerlei Wunder zuzuweisen. Etwas, das die katholische Kirche mehr oder minder stillschweigend zu dulden scheint. Wie auch einige Aspekte der ferngesteuerten Aufklärung (auch über Verhütung) in kirchlichen Jungenschulen.

Wie ihre historischen Vorbilder, wachsen Rómulo und Remo nicht bei ihren leiblichen Eltern auf, und wenn sie auch keine Stadt errichten, weil alle notwendigen Orte schon vorhanden zu sein scheinen, gelingt es ihnen dennoch, in einige sehr grundlegende Konflikte zu geraten.

Während der Therapeut den Zwillingen nachforscht, verfolgt ein Journalist die Spur einer kleinen Heiligen namens Niña, die spurlos verschwunden zu sein scheint - und die in einer mehr oder minder unheiligen Verbindung mit den Zwillingsbrüdern steht.

Ein Versuch, aus vielen Spiegelfragmenten ein Bild der gespiegelten Wirklichkeit zu erschaffen - eine Metapher, die das Buch zweimal bemüht, bzw. aus unvollständigen Polizeiberichten, Gerichtsakten und Therapieprotokollen - und die Feststellung, dass dies letztendlich nie vollständig möglich ist.
Infolge des gegebenen Berichtscharakters bleiben die Romanfiguren selbst stets sehr auf Distanz und verweigern sich immer wieder dem Versuch einer Identifikation mit ihnen, was sie, ihre Probleme und ihre Beziehungen zueinander nicht gerade interessant macht.
Somit liegt zwar eine halbwegs originelle Struktur aus verschiedenen Texttypen vor, die allerdings eine potenziell interessante Geschichte in ziemlich uninteressanter Art und Weise erzählt.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 04/2017)


Vicente Alfonso: "Die Tränen von San Lorenzo"
(Originaltitel "Huesos de San Lorenzo")
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Unionsverlag, 2017. 224 Seiten.
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Vicente Alfonso, geboren 1977 in Torreón, Mexiko, ist Journalist und Schriftsteller. Er stammt aus einer Familie von Bergleuten und besuchte dreizehn Jahre lang eine Jesuitenschule. Neben seiner Tätigkeit als Romanautor schreibt Vicente Alfonso für die Kulturbeilage der Zeitung "El Universal". Für "Die Tränen von San Lorenzo" erhielt er 2015 den "Sor Juana Inés de la Cruz International Prize".