Juli Zeh: "Unterleuten"
Unter
Leuten in Unterleuten
Juli Zeh ist eine der wichtigsten Stimmen der neuen deutschen
Literatur. Ihr bisheriges Schaffen wagte sich durch verschiedenste
Gattungen, sogar ins Genre des Kriminalromans, der große
Gesellschaftsroman allerdings, der war bis jetzt nicht dabei.
"Unterleuten" ist nun so ein Roman, groß, unterhaltsam,
spannend und gut. Er spielt im Jahr 2010, also noch vor den besonders
im Osten Deutschlands entstandenen Problemen mit der Xenophobie der
"AfD", Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und Afrika,
brennenden Flüchtlingsheimen und dem Aufschwung der
Neonaziszene.
Wie auch Juli Zeh selbst vor einiger Zeit aufs Land gezogen ist, hat es
auch hier einiger Berliner in das Brandenburger Dorf Unterleuten
verschlagen. Dort treffen sie auf die standesgemäßen
Dorfbewohner mit ihren eigenen Geschichten, die natürlich
nicht unberührt von der Geschichte Deutschlands und der DDR
sind.
Unter den elf Hauptprotagonisten dieses Romans gibt es den
früheren Dozenten für Sozialwissenschaften Gerhard
Fleiß, der frustriert von seiner Unitätigkeit mit
Jule aufs Land gezogen ist. Er ist der
Vogelschätzer
der Unterleutner Heide und damit verantwortlich für die 32
geschützten "Kampfläufer". Jule scheint eine
übereifrige "Kampfmutter" zu sein, der es um nichts Anderes im
Leben geht als das Wohl ihres kleinen Kindes. Nicht dass dagegen etwas
einzuwenden ist, wenn es nur nicht so verbissen, fast karikiert,
wäre. Ihr Nachbar ist Schaller, von Familie Fleiß
nur "das Tier" genannt, weil er den ganzen Tag
über Gummireifen verbrennt, die das ländliche
Paradies in eine stinkende Hölle verwandeln. Alle Versuche,
ihn anzuzeigen, versanden immer bei der Polizei, die mit den "alten"
Dorfbewohnern unter einer Decke zu stecken scheint.
Des Weiteren treten auf: Grabowski, der ehemalige
Großgrundbesitzersohn, der nach der Enteignung in der DDR zum
Vorsitzenden der LPG "Gute Hoffnung" wurde, die nach der Wende zur
"Ökologica GmbH" wurde. Ebenso sein Lieblingsfeind Kron, der
noch zu DDR-Zeiten den Besitz von Grabowski gebrandschatzt hat. Seine
Rolle ist die des ewigen Meckerers der Dorfgemeinschaft. Auch ein
überheblicher, neureicher Investor aus Bayern, der das
Stück Land nur deshalb gekauft hat, weil er es tun konnte und
die Zeit hat, darauf zu warten, dass hier Kaufparks und
ähnliche Vergnügungstempel entstehen, damit er teuer
verkaufen kann, fehlt nicht, ebensowenig wie die bobohafte und naive
Pferdeliebhaberin aus Berlin, die besserwisserisch und machtbewusst
aufs Land gezogen ist, um ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Sie
will ein Pferdehotel für Großstädter bauen,
damit jeder großstädtische Pferdenarr in Unterleuten
reiten kann, so viel es ihm beliebt. Auch einen Dramatiker, der unter
Erfolglosigkeit leidet, gibt es. Sein sinnloses Mittel, dem Leben Sinn
zu geben, ist das tägliche Rasenmähen.
Und so treffen in Unterleuten die jungen, abgeklärten
Städter auf die alten, konservativen Dorfbewohner.
Für Konflikte und Spannung ist gesorgt. Der
Bürgermeister der Stadt bringt diese Situationen blendend auf
den Punkt:
"Die jungen Leute von heute besaßen erstaunliche
Talente. Zum Beispiel ungeheure Effizienz bei vollständiger
Abwesenheit von Humor. Einem wie Pilz ging es nicht mehr ums gute
Leben, es ging ihm nicht einmal um Geld. Was diese Generation antrieb,
war der unbedingte Wunsch, alles richtig zu machen."
Juli Zeh erzählt in wechselnden Kapiteln, die jeweils
bestimmten Protagonisten zugeordnet sind, aus der Perspektive der
jeweiligen Protagonisten. Das erlaubt ihr, dem Leser ein umfassendes
Bild der jeweiligen Konfliktherde, Animositäten und Neurosen
zu zeigen, das dazu dient, die Tiefenpsychologie möglichst
breit aufzufächern. Die Konflikte
sind die
herkömmlichen: Recht und Unrecht, Veruntreuung, verpasstes
Glück, Eifersucht, Treue und Untreue. Zusätzlich gibt
es noch eine auktoriale, allwissende Erzählstimme, die sich
letztendlich als Journalistin entpuppt. Diese Figur ist der Kunsttrick
in dem Roman, der die Innen- und Außenperspektive zu einem
künstlerisch Ganzen werden lässt, ohne dass dabei die
Grenzen zwischen den beiden Welten verwischt würden.
Die Entwicklung der Protagonistinnen und Protagonisten ist jedenfalls
fast erstaunlich, denn nach den jeweiligen schemenhaften, fast
klischeeüberladenen und etwas grob gezeichneten Erstauftritten
blühen die Figuren schön auf, bekommen Tiefe, sodass
man den Figuren ihre Rollen nur allzu gerne abnimmt.
Sprachlich ist der Roman im weitesten Sinn relativ konventionell
gehalten, von besonders schöner Prosa kann man in diesem Fall
nicht sprechen, was aber wahrscheinlich ein bewusst gewähltes
Stilmittel darstellt, das im Gegenzug für die fehlende
Schönheit der Sprache erlaubt, möglichst nahe am
Jargon und Redefluss der Figuren zu bleiben. Manche Formulierungen und
Aussagen sind so präzise und teilweise auch bösartig,
dass man sich die eine oder andere für spätere
Verwendung notieren möchte.
"Unterleuten" ist ein großer Gesellschaftsroman, der eine
kleine Gemeinde zeigt, in der alle irgendwie rechthaben wollen, in der
es alle eigentlich auch gut meinen, wo sich aber alle auch irgendwie
das Leben gegenseitig zur Hölle machen. Und das kann man
natürlich auch getrennt von Protagonisten und Ortschaft sehen.
Sehr starke Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 04/2016)
Juli
Zeh: "Unterleuten"
Luchterhand Literaturverlag, 2016. 639 Seiten.
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