Martin Walser: "Ein sterbender Mann"
Von Daseinsgrausamkeiten
und Selbstbezüglichkeit, von Verlusten, schicksalhaften Augenblicken
und dem zweifelhaften Zauber der Liebe
Der 1927 geborene Altmeister Martin Walser wurde im Oktober 2015 in
Naumburg mit dem neu geschaffenen "Internationalen
Friedrich-Nietzsche-Preis" für sein Lebenswerk geehrt. Die mit 15.000
Euro dotierte Auszeichnung wird seit dem Jahr 2015 im Zweijahresrhythmus
für ein essayistisches, wissenschaftliches oder literarisches Einzel-
oder Gesamtwerk zu philosophischen Gegenständen und Fragen verliehen. "Die
Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche durchzieht eine Vielzahl
seiner Arbeiten und beschäftigt seine literarischen Figuren",
heißt es in der Begründung der Jury.
"Goethe
verehre ich wirklich, Nietzsche
liebe ich sehr", offenbarte Martin Walser in der "Mitteldeutschen
Zeitung" im Oktober 2015 in einem Interview, und am 8. November 2015
veröffentlichte der Autor im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen
Zeitung" unter dem Titel "'Also sprach Zarathustra'. Der Muthmacher"
eine von ihm gekürzte Fassung seiner Dankesrede zum "Internationalen
Friedrich-Nietzsche-Preis", der nachstehendes Zitat entstammt: "
(...) für mich ist Nietzsche der größte deutsche Schriftsteller.
Dass ich diese bloße, gar nicht bewiesen werden wollende, mindestens
fünfzig Jahre alte Empfindung jetzt ausplaudere, daran ist Thomas
Mann schuld. Ich bin seiner Sprachpolitik nicht gewachsen. Na
ja, er hat eben über Nietzsche geschrieben, während ich mit Nietzsche
schreiben durfte."
Martin Walser setzt in "Ein sterbender Mann" gekonnt unterschiedliche
stilistische Elemente ein, die für abwechslungsreiche Lektüre sorgen,
auch erfolgt mehrmals ein Wechsel der Erzählperspektive. Die Handlung
von "Ein sterbender Mann" ist in München angesiedelt und erstreckt sich
über Teile der Jahre 2014 und 2015.
Theo Schadt (der "sterbende Mann"), 72 Jahre alt, kürzlich von einem
guten Freund verratener und daher schmachvoll ruinierter Geschäftsmann,
als Sprachmensch durch und durch auch höchst erfolgreicher
Gelegenheitsschriftsteller (die fiktive Buchwelt verdankt ihm
unvergessliche Ratgeber wie beispielsweise "Schwindelfrei.
Anleitung zum Selberdenken") und Freizeitaphoristiker mit Hang zu
schwerem Pathos ("Das Alter ist eine Wüste. Darin eine Oase, heißt
Tod."), wird durch die Diagnose Tumor im Dickdarm in einen
zusätzlichen Ausnahmezustand versetzt. Bereits zuvor hat er sich in
einem Netzforum für Suizidwillige angemeldet, über Varianten der
Selbsttötung informiert und mit womöglich Gleichgesinnten
Gedankenaustausch betrieben. Ebendort ergibt sich ein zunehmend
intensiver Kontakt mit einer interessanten wortgewandten Frau ("irreversibler
Todeswunsch"), die sich "Aster" nennt, Schadt selbst tritt im
Forum als "Franz von M." auf.
Aus Briefen, E-Mails und erzählenden Passagen entwickelt sich die einmal
heiter leichte, dann wieder erschütternd bedrückende Geschichte Theo
Schadts. Dieser erlebt, verraten und ausgehebelt von seinem langjährigen
Freund und Geschäftspartner Carlos Kroll, einem ehemaligen
Cello-Spieler, umgarnten Szeneliebling, Lyriker und Frauenhelden, und
seinem Erzkontrahenten, dem Gesellschaftslöwen Oliver Schumm, eines
Tages eine Erschütterung: Als er, wie in letzter Zeit üblich, im Laden
seiner Frau Iris, einem Geschäft für Tanzbekleidung, wo vor allem
Tangobegeisterte verkehren, an der Kasse sitzt, durchfährt ihn ein Blitz
aus heiterem Himmel angesichts der Kundin Sina Baldauf. Von diesem
Moment an ist noch weniger so wie zuvor.
Theo Schadt verlässt kurzentschlossen seine Frau, quartiert sich in
einer kleinen Wohnung ein und gibt sich ganz der Schwärmerei für Sina
und dem Selbstmitleid in seiner dünkelhaften "Einzelhaft" hin, die er
mit schier triebhaft verfasster Korrespondenz ausfüllt. Viele dieser
aufschlussreichen Nachrichten bleiben jedoch unabgeschickt.
Wie sich herausstellt, hat die beeindruckende Sina an ihrem eigenen
Schicksal schwer zu tragen, doch dies erfährt Theo Schadt erst viel
später, als er einen Reisebericht erhält und die Frau ihre
"Zweitidentität" enthüllt.
Weitere Figuren sind Theos und Iris' Tochter Mafalda und der mehr
scheinende als seiende sonderbare Schwiegersohn mit vorderhand kurioser
Strategie, denen erst gegen Ende mehr Bedeutung zukommt.
Viel, vielleicht allzu viel, wurde dem Roman, der im letzten Drittel
erheblich an Tempo gewinnt, auf seinen 287 Seiten aufgebürdet, denn
zusätzlich zu Theos bewegender Leidensgeschichte, die mit unterhaltsamen
Szenen aus der Münchner Schickeria unterfüttert ist, zu all den
seitenlangen Gedankenspielen über romantische Liebe und Selbstmord, zu
den Nachforschungen über den Verrat und die Beziehungen der Kontrahenten
untereinander, zu der nur in Schriftform existierenden sprachinnigen
Beziehung mit Sina, gesellen sich auch noch hervorragend geschriebene
Traumsequenzen und sogar ein Giftmord! (An dieser Stelle sei nur so viel
verraten: Der Tod ereilt in diesem Fall keinen Sympathieträger.)
Überdies begehen zwei Romanfiguren Selbstmord.
Einsicht zeigt Theo Schadt übrigens erst am Schluss, als er sozusagen
"übrig bleibt" und sich wieder in Arbeit stürzt, die ihn gewissermaßen
vom Grübeln abhält und zum Weitermachen zwingt. Dass es auf die Dauer
nicht ausreichen kann und darf, sein Heil in der Existenz eines anderen
Menschen zu sehen, hat er zu diesem Zeitpunkt bereits infolge dreier
Todesfälle zur Kenntnis nehmen müssen. Er landet letztlich bei der
alarmierenden zeitgeistigen Feststellung, dass Erwerbsarbeit den Geist -
wenn schon nicht tötet, so doch zumindest - betäubt und insofern eine
Abkehr vom gründlich gescheiterten Privatleben ermöglicht.
Gegen Ende überstürzen sich die Ereignisse also geradezu, und die
Hauptfigur wird schonungslos mit den verheerenden Konsequenzen eigenen
Tuns und Unterlassens konfrontiert. Davon müsste sich vermutlich selbst
Friedrich Nietzsche nach der Lektüre erst einmal erholen!
Wie bereits angedeutet, verwöhnt Martin Walser auch in diesem Roman den
Leser wieder mit wunderbaren Szenen von Zusammenkünften
Literaturschaffender mit Kulturbeauftragten und anderen skurrilen
Zeitgenossen, seine äußerst unterhaltsame Schilderung einer
Preisverleihung samt eher ratloser Laudatio erinnert bisweilen an Loriots
unvergessliche Darstellung des Lyrikers Lothar Frohwein im Film "Pappa
ante Portas", als dieser im Rahmen einer Lesung sein "Krawehl,
krawehl! Taubtrüber Ginst am Musenhain ..." dem teils
hingerissenen, teils verdutzten Publikum zu Gehör bringt.
Erst recht mutet die ebenso intelligente wie humorvolle Beschreibung
eines noblen mehrgängigen Abendessens loriotartig an, und so ergibt sich
bei aller Daseinstraurigkeit, trotz des thematisierten Altersleids,
trotz der Todesfälle ein erfrischender Gesamteindruck.
Martins Walsers späte Romane sind, bei allem Tiefgang, immer auch
lebensluftige Texte eines akribischen Sprachvirtuosen, dessen
selbstironischer Zynismus den Leser zwar mitunter in bester Absicht
durchbohrt, ihm jedoch aufgrund des eingewebten Zaubers keine bleibenden
Wunden zufügt.
Ein aufwühlendes, ein äußerst empfehlenswertes Buch!
(kre; 01/2016)
Martin Walser: "Ein sterbender Mann"
Rowohlt, 2016. 287 Seiten.
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