Michael Wallner: "Der Flug nach Marseille"


Stürmische Zeiten: Kampf gegen die Krankheit gewonnen, doch die Liebe verloren

Als der Erste Weltkrieg für Deutschland schon verloren ist, aber noch nicht Friede herrscht, flieht am 8. November 1918 König Ludwig III. aus München. Der Sozialist Kurt Eisner ruft in Bayern als erstem Land des Reiches die Republik aus und wird vom Münchner Arbeiter- und Soldatenrat zum bayerischen Ministerpräsidenten gewählt.

Angesichts der fatalen Kriegsfolgen, der gleichzeitigen politischen und sozialen Aufbruchsstimmung und auch der epidemischen Ansteckungsgefahr durch die Spanische Grippe erzählt der gebürtige Grazer Michael Wallner von der Liebe des Journalisten Karl Kupfer. Seine künstlerisch veranlagte Frau Nora leidet an schwerer Diabetes, einer Krankheit, die damals, vor der Herstellung von Insulin, nicht behandelbar war. Über einen Jugendfreund der behandelnden Ärztin Dr. Julie Landauer und die Bekanntschaft der Künstlerin zu einem südfranzösischen Maler gelingt Unwahrscheinliches. Nur wenige Wochen nach dem Krieg landet ein französisches Flugzeug im ehemaligen Feindesland, in München, und bringt Nora zur neuartigen Insulinbehandlung nach Marseille. Wider jede Erwartung verbreitet sich eine hoffnungsvolle Grundstimmung. Nora geht es in Frankreich zusehends besser, während Karl zwischen der Betreuungspflicht seines Sohnes, der Verantwortung gegenüber seiner Frau und der journalistischen Arbeit in stürmischen Zeiten in eine neue Liebe taumelt, in eine verzehrende Sehnsucht nach der frustrierten Ärztin Julie.

Der Theaterregisseur, Drehbuch- und Romanautor Michael Wallner wählt für den spannenden Roman in einer wechselvollen Zeit eine filmische Vorgehensweise in rasch aufeinanderfolgenden Szenen mit prägnanten Dialogen und bildreichen Beschreibungen. Bei übersichtlich knappem Personenrepertoire fokussiert er wissend auf die politischen und medizinhistorischen Hintergründe und lässt die Leserschaft herzergreifend und tief in die Welt der Groß- und Urgroßeltern tauchen, als Klassenschranken mit ungewissem Ausgang aufbrachen und heute harmlose Krankheiten zum Tod führten.

Was in großen historischen Zusammenhängen - politische Lage in Bayern, Behandlungsmöglichkeiten von Diabetes, Spanische Grippe - gut recherchiert wurde und augenscheinlich bestens gelingt, scheitert an Inkonsequenzen, in unhistorischen Details oder ungewollten Annahmen aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts: Autofahrten scheinen schon anno 1918 fast selbstverständlich, auch Ferngespräche zwischen München und Antibes (Seite 244). Ob chirurgische Eingriffe damals bereits mit dem Kürzel "OP" benannt wurden (Seite 70) und Kinder Anoraks trugen (Seite 166), konnte der Rezensent nicht endgültig feststellen, jedenfalls war die Bezeichnung "Anorak" im Deutschen noch unbekannt.

Schlimmer noch wiegen inhaltliche Brüche: Der Vater einer männlichen Nebenfigur starb auf Seite 139 am Tag von dessen Geburt. Dennoch hat er eine kleine Schwester (Seite 143). Was man hier vielleicht als Halbschwester erklären könnte, wird bei der Protagonistin noch rätselhafter. Auf Seite 75 blickt Julie scheinbar unbesorgt auf ihren dreißigsten Geburtstag im April und stellt fest, dass eine Schulfreundin sogar (!) schon ein drittes Kind hat; auf Seite 132 feiert sie ihn am 21. Februar, dem Tag der Ermordung Kurt Eislers.

Vielleicht lassen sich solche Probleme durch genaueres Lektorat schon in einer Neuauflage beilegen. Eine solche ist der ergreifenden Liebesgeschichte in stürmischen Zeiten jedenfalls zu wünschen.

(Wolfgang Moser; 08/2016)


Michael Wallner: "Der Flug nach Marseille"
Luchterhand Literaturverlag, 2016. 256 Seiten.
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