François Garde: "Das Lachen der Wale"
Eine ozeanische Reise
"Isabelle
liebt die echten Wale, und ich interessiere mich nur für ihre
Spuren." (S. 54)
Dieses Zitat erläutert die Herangehensweise des Autors, denn
"Das Lachen der Wale" ist kein populärwissenschaftlich
angehauchtes Sachbuch über die Giganten der Meere, sondern
eine sehr individuell zubereitete Melange von mehr oder weniger
poetischen Betrachtungen und erlebnisaufsatzartigen Passagen, die mit
einer Reihe von Fundstücken kombiniert wurden.
François Garde bietet dem Leser solcherart die
Möglichkeit, mittels seines beschaulichen Sammelsuriums
ebenfalls Begeisterung für das Wesen der Wale, was immer man
auch konkret darunter verstehen mag (Projektionsflächen?), zu
entwickeln.
En garde: François und die Walspuren
Hochgradig motiviert zog der 1959 geborene Autor also in die Welt
hinaus, um sich mit geschärften Sinnen auf die Suche nach
Walen oder vielmehr deren Spuren zu begeben. Seine Entdeckungen,
Gedanken und Schlussfolgerungen hat er im vorliegenden Buch
festgehalten. Gegliedert ist das Ganze in drei Hauptabschnitte ("Das
Tier", "Die Jagd", "Der Himmel"), diese bestehen wiederum aus
Kurzkapiteln.
Ob er sich mit Artefakten aus Walzähnen befasst, ob er in weit
von jedem Ozean entfernten Orten Straßen und Plätze
mit vermeintlichem oder tatsächlichem Walbezug aufsucht oder
in Meeresnähe gewisse "verräterische" Benennungen zu
ergründen versucht, sich wiederholt und weitschweifig mit Jona
und dessen Geschichte sowie vergleichend mit Jesus befasst, ob er von
Lausbuben am Strand irregeführt wird, sich mit zoologischen
Klassifizierungen beschäftigt, eine ehemalige Weltumseglerin
zu Wort kommen lässt, ob die Beseitigung eines gestrandeten
Walkadavers mittels Sprengstoffeinsatzes ansteht (an dieser Stelle
erinnert man sich gern an
Heinrich Steinfests sehr unterhaltsamen Roman "Der
Allesforscher", in dem ein explodierender Walkadaver in das Leben des
Protagonisten einbricht), stets hat der frühere hohe
Regierungsbeamte lehrreiche Einschübe und
höchstpersönliche Anmerkungen parat.
Er thematisiert kurzerhand die Verwandtschaft von Kühen und
Walen ("Der Wal ist eine Kuh, die Plankton abweidet, winzige
Garnelen." (S. 74), stöbert in Museen Artefakte mit
Walabbildungen auf, lässt sich von einer Insel Legenden
erzählen, stellt fest, dass die aufgewühlte See Wale
nicht stört, wundert sich über die Namensgebungen
für den Meeresgrund und vergleicht Stierkämpfer mit
Walfängern. Er äußert sich wenig
schmeichelhaft über die isländische Küche,
beschreibt die inzwischen verfallene einzige Walfabrik auf
französischem Staatsgebiet, Walfangpraktiken und Sternbilder.
Selbstverständlich handelt es sich bei dem (freilich
unbestätigten) Wal des Jona nicht um das einzige Auftauchen
von Walen in der Literatur. François Garde hat sich auch in
diesem Bereich als Spurensucher betätigt, einen eigenartigen
Brief an
Herman
Melville, den Autor von "Moby Dick", verfasst und sich
kritisch mit "Pinocchio",
den
er in gewisser Hinsicht als unzulässige Variation des
Jona-Themas betrachtet, auseinandergesetzt. Zwischendurch beklagt er
das Verschwinden der Metaphysik, schreibt über Walgesang und
Naturschutz. Auch liebäugelt er mit ewigen Rätseln
der Schöpfung, begibt sich auf Wanderungen und lässt
den Leser an seinen lebhaften Tagträumen sowie raumgreifenden
Landschaftsschilderungen teilhaben.
Ebenso stellt er die englische und französische
Kolonialgeschichte in Teilbereichen dar, singt ein Loblied auf ein
Walskelett ... und so weiter und so fort; offenbar ein schier
unerschöpfliches Thema.
Somit ist ein stark subjektiv geprägter Text entstanden, der
mindestens so viel über das tatsächliche Wesen des
Autors wie über das vermeintliche der Wale verrät,
mitunter treibt die Begeisterung auch erstaunliche Blüten,
denn François Garde scheint zunehmend überall auf
Walspuren zu stoßen, und man weiß bei manchen
Aussagen nicht recht, ob sie ernst oder spaßig gemeint sind;
beispielsweise: "Fortan gehe ich nachts in der vagen Angst
spazieren, ein Wal könnte mir auf den Kopf fallen."
(S. 163).
Grundsätzlich ist es durchaus
begrüßenswert, dass es immer noch Menschen gibt, die
ihre Neigungen so unbeirrt ausleben können, Dilettanten im
besten Sinn, die dann auch eventuell Bücher über die
Objekte ihrer Begierden verfassen. Freilich erreicht
François Garde an keiner Stelle die Intensität
großer Schriftsteller. Erwähnt sei nur als Beispiel
Christoph
Ransmayr, der in seinem "Atlas eines ängstlichen
Mannes" fesselnd, in wohlgesetzten Worten und frei von Arroganz auf nur
wenigen Seiten die hautnahe Begegnung eines Tauchers mit einer
Buckelwalkuh und deren Kalb im offenen Meer schildert; die Geschichte
trägt den anmutigen Titel "In der Tiefe".
Die unaufgeregte Übersetzung der französischen
Wal(l)fahrt (übrigens wird die Formulierung "Sinn
machen" auch durch häufigen Gebrauch nicht
anständiger!) von Thomas Schultz passt wie angegossen zum Stil
François Gardes.
(kre; 03/2016)
François
Garde: "Das Lachen der Wale. Eine ozeanische Reise"
(Originaltitel "La Baleine Dans Tous Ses États")
Aus
dem Französischen von Thomas Schultz.
C.H. Beck, 2016. 231 Seiten.
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François
Garde wurde für seinen Romanerstling "Was mit dem
weißen Wilden geschah" in Frankreich mit acht
Literaturpreisen ausgezeichnet:
"Was mit dem weißen Wilden geschah"
1843 wird der junge Matrose Narcisse Pelletier von seinem
Kapitän versehentlich an der australischen Ostküste
zurückgelassen. Als man ihn nach siebzehn Jahren
zufällig wiederfindet, lebt er inmitten eines Stamms von
Jägern und Sammlern: Er ist nackt und tätowiert,
spricht nur noch deren Sprache, hat seinen Namen vergessen.
Was ist geschehen?
Dieses Rätsel versucht der Entdecker Octave de Vallombrun zu
ergründen und glaubt sich der Lösung schon ganz nah,
als ihm der "weiße Wilde" in gebrochenem Französisch
antwortet. Er bringt seinen verunglückten Landsmann nach Paris
und macht es sich
zur Aufgabe, ihn in sein altes Leben, zu seiner
Familie zurückzuführen. Doch Narcisse Pelletier
öffnet sich dem selbsternannten Retter nur widerwillig: Reden,
so sagt er, ist wie Sterben.
Packend und elegant, frei nach einer wahren Geschichte, vergleichbar
mit
Bruce
Chatwins "Traumpfade", erzählt François
Garde in seinem vielfach ausgezeichneten Debütroman von einem,
der die sogenannte Zivilisation über alles stellt, und von
einem, dessen Leben dreigeteilt wurde in ein Vorher, Während
und Danach. (C.H. Beck)
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Noch
ein Buchtipp:
Hubert
Reeves, Yves Lancelot: "Wie kommt das Blau ins Meer? Die
Ozeane unseren Enkeln erklärt"
"Da wir nun beisammen sind, um über das Meer zu
sprechen, kommt, schauen wir es uns doch einfach gemeinsam an! Ich
liebe es hierher zu kommen, mich auf diese Felsen zu setzen, den
Horizont zu betrachten und dabei an gar nichts zu denken ..."
Hubert Reeves, einer der renommiertesten Astrophysiker
der Welt, und
sein Freund, der Ozeanograf Yves Lancelot, erklären in diesem
Buch ihren Enkeln die Meere. Die Kinder stellen ihnen all jene Fragen,
auf die auch wir Erwachsenen nicht immer gleich eine Antwort parat
haben - zum Beispiel: Wie kommt das Blau ins Meer?
Bedeutet Wasser Leben? Woher kommt eigentlich all das Wasser? Gibt es
ein einziges Meer oder mehrere? Und wieder beantwortet Reeves gemeinsam
mit Lancelot all diese Fragen mit jener gelassenen und auf jeden
Einwand eingehenden Liebenswürdigkeit, die
Großvätern eigen ist. Ein zauberhaftes Buch und eine
wunderbare, für jedermann verständliche
Einführung in die Grundlagen unserer Meereswelt. (C.H. Beck)
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