Dimitri Verhulst: "Die Unerwünschten"
Vom
hoffnungslosen Abgrund in der Kindheit
Der flämische Autor Dimitri Verhulst wuchs in Pflegefamilien
und Heimen auf. Sein Roman "Die Beschissenheit der Dinge"
erzählt von seiner Kindheit und dem Ringen, ihr zu entkommen.
Mit "Die Unerwünschten" nähert sich Verhulst einem
unergründeten Abgrund der Kindheit und Jugend. Basierend auf
eigenen Erfahrungen schildert Verhulst in zwei miteinander
verknüpften Erzählungen die Hoffnungslosigkeit einer
lieblosen Kindheit. Er rechnet mit dem Leben im Heim ab.
Was ist der Auslöser für diese Abrechnung? Eine junge
Frau, aufgewachsen unter staatlicher Fürsorge, wie es der
Klappentext beschreibt, nimmt sich das Leben. Dimitri Verhulst liest in
der Zeitung von zwei Menschen, seinen ehemaligen Mitbewohnern, die ihre
Kinder getötet haben.
Giannas Selbstmord löst bei dem Autor einen inneren Monolog in
der 2. Person aus. "Stell dir vor, du musst das
Begräbnis einer langjährigen Freundin besuchen, die
mit nur 17 Jahren ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Stell dir vor,
du
hörst die Predigt des Priesters und willst bei all dieser
Heuchelei einfach vergessen, dass keiner der Anwesenden wirklich
wusste, wer Gianna war. Stell dir vor, sie ist einer dieser
Unerwünschten, eine dieser leeren Flaschen, die man einfach
dem Milchmann zurückgegeben hatte. Stell dir vor, dir fehlt es
im Leben an Liebe und Wärme und Familie, denn am Ende warst du
doch nur ein Wegwerfkind. Wie Gianna. Einfach ein
Wegwerfmädchen. Familienlos. Heimatlos. Perspektivlos.
Unerwünscht."
Mit Sarah und Stefaan führt der Autor ein Interview. Es liest
sich wie ein Zeitungsartikel, und dann wieder hört sich alles
an wie der Gerichtsprozess, der die beiden zu lebenslanger Haft
verurteilt. Der Leser ist mittendrin, als Sarah ihre drei Monate alte
Tochter erstickt und Stefaan den Sohn tötet. Die Opfer sind
die unerwünschten Kinder von unerwünschten Kindern.
Diese unerwünschten Kinder werden zu Soziopathen
ohne
Verantwortungsgefühl, risikobereit, unter
Angststörungen leidend, aggressiv und reizbar. Stefaan und
Sarah wurden ausgeschieden. Von ihren Familien.
Vom System. Von der
Gesellschaft.
Für den Leser ist es eine vulgäre Unterhaltung
zwischen den Eltern, ein erbarmungsloses Kreuzverhör vor
Gericht, ein Interview mit einem Journalisten oder ein
Gespräch mit dem alten Weggefährten und Autor. Es ist
eine pechschwarze Erzählung mit Sprachgewalt und Aussagekraft.
Raffiniert und voll unerwünschter Erkenntnisse.
Ein verdienter Applaus an den Übersetzer.
(Sabrina Brugner; 11/2016)
Dimitri
Verhulst: "Die Unerwünschten"
(Originaltitel "Kaddisj voor een kut")
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten.
Luchterhand Literaturverlag, 2016. 144 Seiten.
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Dimitri Verhulst wurde 1972 in Aalst, Belgien, geboren und gilt als einer der besten auf Niederländisch schreibenden Schriftsteller. Der Roman "Die Beschissenheit der Dinge", in dem er seine eigene Geschichte erzählt, war ein großer Verkaufserfolg, wurde für den "AKO-Literaturpreis" nominiert und mit dem Publikumspreis "Goldene Eule" ausgezeichnet. Die Verfilmung von Felix van Groeningen wurde in Cannes mit dem "Prix Art et Essai" prämiert. Dimitri Verhulsts Werke sind in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.