Bilal Tanweer: "Die Welt hört nicht auf"
Leben
in Karatschi
Der 1982 in Karatschi geborene und nun in Lahore lebende pakistanische
Autor Bilal Tanweer, dessen Muttersprache Urdu ist, hat nun, nach einem
Studium in den USA ("Creative Writing" an der Columbia
University) seinen Debütroman vorgelegt. Der anno
2013 in Indien bei "Random House India" erschienene Roman
trägt den Originaltitel "The Scatter Here is Too
Great", ein Titel, der dem Werk eher gerecht wird als der
deutsche Titel.
Eine Bombe, die in der Millionenstadt Karatschi an einer zentral
gelegenen Busstation explodiert, ist der Ausgangspunkt für die
Erzählstruktur dieses Romans, der die durch die Bombe
verstreuten Schicksale, Träume und Lebenswege seiner
Protagonisten mosaikartig zusammenfügt. Eine Art Episodenroman
der durch Gewalt und Terror aus der Bahn geworfenen Figuren zeichnet.
Daher ist der Hauptprotagonist dieses Romans die Stadt Karatschi, eine
rauen Stadt, in der das Leben der Menschen von
Raubüberfällen, Korruption, Polizeiwillkür
und ein überdeutlich ausgeprägtes Klassenbewusstsein
geprägt ist. Ebenso problematisch ist die unaufhaltsam Fahrt
gewinnende Islamisierung des Landes, wie dieser Text sehr
schön vorführt.
Die verschiedenen Stimmen dieses aus mehreren verschiedenen
Erzählungen bestehenden Romans berichten aus der Perspektive
des Ich-Erzählers und sind stilistisch höchst
unterschiedlich gehalten. Einen herkömmlichen Handlungsbogen
findet man selten, das Gesamtbild stellt sich durch zunehmende
Bausteine und unerwartet in einer anderen Erzählung
auftauchende Figuren quasi selbst zusammen. Das ermöglicht dem
Leser, ein und dieselbe Sache aus einer neuen, anderen Perspektive zu
sehen. Von Alltagsjargon bis zu bewusst gewählter Sprache ist
der Bogen gehalten, der diesen originellen Roman letztendlich dann doch
zu einem überzeugenden Ganzen werden lässt. Geduld
ist allerdings gefragt, da man erst am Ende das Puzzle soweit
zusammengestellt hat, dass man, wenn auch noch immer viel verschwommen
bleibt, den Eindruck gewinnt, zumindest fast genug zu wissen.
Zu den Stimmen gehört "der Autor", der in Wahrheit Journalist
ist, aber danach strebt, Schriftsteller zu sein. Seine
Erzählung ist auf den ersten, dritten und fünften
Teil dieses Romans aufgeteilt und fungiert quasi als verbindendes
Element, weil er versucht, das in einer Erzählung zu
bündeln. Ein geschickter Kunstgriff.
"Während ich die Brücke hinunterging,
stieß ich auf eine von Schüssen durchsiebte
Windschutzscheibe. Ich blieb stehen, um sie genauer in Augenschein zu
nehmen. Verrückt, dass so etwas auf dem Bürgersteig
lag. Ich betrachtete die Zickzacklinien, die jedes Einschussloch wie
ein Gespenst umgaben. Ein unglaublich brutales und zugleich
schockierend schönes Objekt - ein unverhülltes
Mahnmal, das für diesen Augenblick, für diese Stadt
stand."
Die Erzählungen selbst sind die einer Frau, die in ein
heimliches und in
Pakistan gefährliches
Liebesverhältnis schlittert, und von Sadeqs Freund, um dessen
Liebe sein Vater sich vergeblich bemüht. Ebenso wie dessen
Großvater, der seine Familie wegen seiner politischen
Aktivitäten als Schutzmaßnahme verlassen hat.
Bilal Tanweer gelingen, hervorragend
von
Henning Ahrens ins Deutsche übertragen, viele
ausgezeichnete Szenen und Tableaus, die seinen liebevoll kritischen
Blick auf seine Stadt Karatschi eindrucksvoll demonstrieren. Er schafft
es auch, seinen Figuren gekonnt Leben einzuhauchen, auch wenn einige
sprachlich absurde Momente passieren, die eigentlich nicht logisch
erklärbar sind. Man kann natürlich nicht in der Ecke
hocken, während man an eine Mauer pinkelt, um nur ein Beispiel
zu nennen. Das ist allerdings etwas, das sich bereits im Original
findet und im deutschen Text dann möglicherweise bewusst nicht
mehr hinterfragt worden ist.
Fazit:
Bilal Tanweer ist definitiv eine starke Entdeckung. Die Vorfreude auf
weitere Texte dieses jungen Autors ist jedenfalls groß. "Die
Welt hört nicht auf" ist ein nachdenklich stimmender, am Ende
fast zur Gänze überzeugender Roman. Nicht alles ist
gelungen, und vielleicht ist das Auflegen und Zusammenfügen
der literarischen Puzzlesteine ab und zu ein wenig zu sehr vom Einsatz
des Lesers abhängig. Dieser Einsatz zahlt sich jedoch in jedem
Fall aus. Deshalb auch eine wirklich starke Empfehlung für
dieses vielversprechende und beeindruckende Debüt.
(Roland Freisitzer; 05/2016)
Bilal
Tanweer: "Die Welt hört nicht auf"
(Originaltitel "The Scatter Here is Too Great")
Übersetzt aus dem Englischen von Henning Ahrens.
Hanser, 2016. 192 Seiten.
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