Heinrich Steinfest: "Das Leben und Sterben der Flugzeuge"


"Es mag ja vorkommen, daß Menschen hin und wieder das gleiche träumen und sich einzelne Elemente ihrer Träume wiederholen, Schreckliches zunimmt, Vages eine konkrete Form annimmt, Klares verschwimmt, aber es ist doch etwas anderes, fast jede Nacht zu träumen, ein- und dieselbe Person zu sein. Derart, daß man meint, ein Doppelleben zu führen. Im Wachsein das eine, im Traumsein das andere. Und man kaum sagen könnte, das eine sei echt, das andere nicht. Oder eines echter als das andere." (S. 97)

Eine zauberhafte Einladung zum Träumen mit Tiefgang: Ein Spatz und ein Kommissar als ungleiches Traumzwillingspaar in zwei Welten


Beklemmend tragische Meldungen von verschwundenen Flugzeugen tauchen glücklicherweise selten, aber eben leider doch in den Weltnachrichten auf, die allermeisten Fälle werden früher oder später aufgeklärt, zumindest werden der Öffentlichkeit üblicherweise irgendwann plausible Erklärungen aufgetischt. Doch um ein spezielles Rätsel der Luftfahrtgeschichte geht es in diesem Roman lediglich am Rande, beziehungsweise stellt dieses in Heinrich Steinfests Roman bloß ein Symptom dar.
Vielmehr geht es gewissermaßen, wie auch schon in "Das grüne Rollo", um eine  Spielart der "Zwei Welten-Theorie", freilich erneut keineswegs reduziert auf Kant'sche Ansätze, sondern fürwahr ganz praktisch und anschaulich, sofern der Leser bereit ist, sich neugierig und offen auf literarische Reflektionen und Spekulationen über Realitätsansprüche und Traumwirklichkeiten einzulassen, sich im besten Sinn verführen und in eine spannende mehrdimensionale Geschichte entführen zu lassen.
Noch konsequenter und energischer als in "Das grüne Rollo" konstruiert der Autor miteinander verzahnte Wirklichkeiten, wobei sich die maßgeblichen Wechselwirkungen erst im Verlauf der einfallsreichen Handlung erschließen. Allerdings geht dem Roman im übertragenen Sinn gegen Ende die Luft aus, die Geschichte verliert merklich an Schwung, und auch die eigenwillige Syntax des Autors ist vermutlich nach wie vor nicht nach jedermanns Geschmack.

Heinrich Steinfest bietet jedoch erneut packende, fantasievolle Handlungsverläufe, inspirierende Gedankengänge, sympathisch freimütige Figuren und internationale Schauplätze. Dies alles gekonnt und humorvoll auf 598 Seiten in Szene gesetzt.


Heinrich Steinfest bei der Präsentation
seines Romans in Wien am 1. September 2016
(Foto: Doris Krestan)

Der in Stuttgart lebende Österreicher Heinrich Steinfest ist ein genialer Romancier, sein Stil mitreißend und niveauvoll, sein Erzählkosmos einzigartig. Wo andere Schriftsteller fruchtlos um Originalität ringen, sich womöglich gar in dubiosen Schreibkursen nach hochfliegenden fremden Fantasien strecken und doch in der zeitgenössischen Einförmigkeit kleben bleiben, hat er längst seine eigene einmalige Rezeptur gefunden, heutzutage selten gewordene Lektüreerlebnisse zu kreieren: Ebenso spielerisch wie unterhaltsam behandelt er auch gewichtige Themen, lässt dem Leser gedankliche Freiräume, sorgt für Abwechslung wie auch für Lesespaß und bezieht überdies ganz selbstverständlich unterschiedliche Bewusstseinszustände in seine Werke ein.

Seine Erzähltechnik ist dabei freilich keine runderneuerte, schließlich muss man heutzutage zum Glück nicht mehr um jeden Preis modern sein, Steinfest versteht es vielmehr, auf traditionelle Weise Abenteuer und Zeitkritik, Vergnügen und Anregung gleichwertig unterzubringen, mit Erwartungshaltungen zu spielen, Figuren in Extremsituationen zu zeigen, gewissermaßen den eingefahrenen Alltag als Sprungbrett ins Ungewisse einzusetzen.

Bei ihm muss das Fantastische nicht krampfhaft in irgendeine Wirklichkeit gezerrt werden, vielmehr ist es als Grundton oder "die andere Seite" immer vorhanden und tritt bei passenden Gelegenheiten notwendigerweise in Erscheinung. Heinrich Steinfests Romane beinhalten Krimielemente, Szenen aus dem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, transportieren bei alldem jedoch auch ganz selbstverständlich stets Lebensfreude, gewinnenden Optimismus und Geschick im Umgang mit unerwarteten Situationen. Sie entziehen sich leichtfüßig nüchtern verstockten Zeitgenossen, lassen sich zudem in keine Genreschublade einsperren, und das ist gut so!

"Das Unnatürliche der Ereignisse als eine Sonderform des Normalen" (S. 267)

Ein Pariser Jungspatz namens Quimp, der zunächst in seinen überaus realistisch anmutenden Träumen ein blinder Mann ist (ein Missverständnis, wie sich bald herausstellt), erhält von einem sterbenden Artgenossen eine besorgniserregende Mitteilung, die er dem in Wien ansässigen legendären Altspatzen Pinesits überbringen muss: der Auftakt zu einem gefiedersträubenden Abenteuer!
Wie bitter ernst die Bedrohungslage ist, muss Quimp bald schmerzhaft am eigenen Leib erfahren, denn er entgeht nur knapp einem Mordanschlag. Der Jungspatz gelangt mit Zügen nach Wien und nimmt als blinder Passagier ein Taxi nach Inzersdorf (köstliche Dialoge zwischen dem Taxifahrer und der zu befördernden unfeinen Dame!), wo er auf dem Friedhof erneut dem Tod um Haaresbreite entgeht und in der Nähe einer goldenen Christusstatue endlich auf besagten Pinesits trifft. Dieser wohnt bei einem todgeweihten Maler, der ihn vor vielen Jahren gerettet hat, und dessen letztes Werk (ein gemalter Wassertropfen, der tatsächlich in die Spatzenwelt eintritt, eine sich erst viel später aufklärende Verwischung) kurz vor der wundersamen Vollendung steht.
Quimps Auftrag lautet, die Sperks (einst von Menschen zu Bombenpiloten ausgebildete Spatzen, die geflohen sind und nun von Totalisten bedroht werden, die an das geheimnisumwitterte Material der einzigartigen Spatzenrüstungen herankommen wollen) zu warnen. Pinesits, der weiß, dass sich die Sperks in Belfast aufhalten, und Quimp reisen also in Flugzeugen auf die Insel. Die Kriegerkaste der Sperks operiert von einem geheimen Stockwerk des (in Kommissar Blinds Realität niemals errichteten) Hochhauses "Aurora Building" aus, doch die französischen Totalisten kennen aufgrund eines verräterischen Informanten das Versteck bereits und planen mit britischer Unterstützung den Angriff, und Quimp, mittlerweile geschlechtsreif, lernt in turbulenten Kriegszeiten die beeindruckende Sperks-Generälin O'Neill kennen und schätzen ...

Der zweite Icherzähler ist also der deutsche Hauptkommissar Blind, in seinen Träumen als Spatz Quimp unterwegs. Der ebenso kunstsinnige wie sportbegeisterte, jedoch in der wahren Liebe bisher glücklose Mittfünfziger übernimmt auf Ersuchen seines Vorgesetzten, erfreut über die Abwechslung gegenüber allgegenwärtigen Terrorszenarien, den bereits einige Zeit zurückliegenden sonderbaren Fall des angeblichen Selbstmords eines Erfinders. Dessen Witwe Greta Nelson glaubt nicht an den Selbstmord ihres Mannes im Beisein ihrer heimlichen Geliebten, einer der Interventionsvereinigung der "Golderwachten" angehörenden Künstlerin, und bald werden auch Blind die Augen geöffnet, denn er entdeckt auf einem Foto des Unfallwagens im Inneren des Kraftfahrzeugs einen toten Spatzen, und der umgekommene Erfinder besaß unerklärlicherweise bei seinem Tod nur noch ein Bein, doch die Ungereimtheiten waren damals im Verlauf der Ermittlungen niemandem aufgefallen.
Der Hauptkommissar, nach einer Transplantation Besitzer des Herzens eines verunglückten österreichischen Skifahrers, Germanist mit Faible für österreichische Literatur, ist ein Arbeitstier ohne Privatleben und stürzt sich in die Ermittlungen. Im Zuge seiner Recherchen erfährt er, dass die Interventionskünstler in einem unterirdischen Geheimbereich der Firma des Erfinders Karel Nelson bereits Monate vor dessen Verschwinden das damals schon zusammengeflickte Wrack des Flugzeugs (Flug MH 370!) entdeckt hatten. Und die vorerst unerklärlichen Begebenheiten häufen sich, während sich die Besonderheiten der absolut gleichberechtigten Welten in zunehmendem Ausmaß offenbaren.
Blind will nach Belfast reisen, um dort zu recherchieren, denn er ahnt längst, dass es mit seiner "Traumidentität" und den beiden Welten eine besondere Bewandtnis hat, doch er wird überfallen und kommt erst nach einer Zeitlücke von 47 Tagen auf einer nach Oslo fahrenden Fähre wieder zu Bewusstsein. Nicht nur der zwielichtige Waffenhändler/Auftragskriminelle Nybråten entpuppt sich als doppelter Weltenwandler, als ein gesammeltes Bewusstsein mit zwei Erscheinungsformen und jeweils höchstpersönlichen Interessen. Frederik/Clemens, ein aufgeweckter Bub mit speziellen Fähigkeiten, der in gewisser Weise in beiden Welten als Schutzengel fungiert, erscheint erneut auf der Bildfläche, und Blind muss während einer dramatischen Pokerpartie Quimp vor einer bereits in der anderen Welt abgefeuerten Pistolenkugel retten, indem eine Spielkarte die Seiten wechselt ...
Auch Blinds heimlich in ihren Vorgesetzten verliebte Sekretärin Vera Sterlitz, in der anderen Welt eine erotisch aufgeschlossene Gefahrendarstellerin, tauscht in einer Krisensituation plötzlich mit ihrer Traumpartnerin die Plätze. Personen wie auch Gegenstände können von einer Welt in die andere "gewischt" werden und dort die Positionen ihrer jeweiligen Traumidentitäten einnehmen.
Nicht zu vergessen die Stimme eines beinahe allwissenden Albatros, der sich gelegentlich gottgleich in den Köpfen Quimps und Blinds zu Wort meldet, und immer wieder überraschende Entdeckungen, wer wessen Traumpartner ist. Traumentzug führt zu Lücken in den jeweiligen Biografien der Traumpartner, und es herrscht nicht durchgehend Gleichzeitigkeit in den beiden Welten ...
Zwischen Blind, der sich nicht und nicht an seinen Vornamen erinnern kann (kein gutes Zeichen hinsichtlich seines Realitätsanspruchs!), und der schönen Milena/Grace knistert es mit allen Konsequenzen, doch nicht jeder Figur ist ein glückliches Ende vergönnt, und in der anderen Welt ist die Grazie gar ein Transvestit mit unerwarteten Qualitäten.
Nybråten arbeitet inzwischen auf eigene Rechnung und mit allen Tricks, darunter auch ein 47 Tage währender Traumentzug, um an Quimps Helm und O'Neills Rüstung zu kommen, und will die beiden im Käfig zur Fortpflanzung zwingen.

Nach unzähligen Verwirrungen, rätselhaften Vorkommnissen und spektakulären Ereignissen laufen einige Handlungsfäden schlussendlich im Wiener Belvedere zusammen, eine Hauptfigur erleidet ihren anscheinend längst vorherbestimmten Heldentod, indem der aus der Pokerpartie resultierende Schuldschein eingelöst wird, eine weitere Hauptfigur findet in der anderen Welt ihr Glück, wobei manche Motive gänzlich unaufgelöst bleiben und einige Symbole sich auch nicht auf den zweiten Blick erschließen (z.B. der Golfball).

In einem Interview mit dem "Piper" Verlag erzählte Heinrich Steinfest: "Mir gibt immer wieder die Intensität der eigenen Träume zu denken, wie extrem ich vieles erlebe, das Schöne wie Schreckliche, auch diese gewisse hyperrealistische Präzision mancher Szenen. In meinen Texten sind Traum und Wirklichkeit immer sehr eng miteinander verbunden, 'ehelich' würde ich sagen. Das ist bei diesem neuen Roman nun besonders stark, weil hier die eine Figur, der Spatz, in seinen Träumen sich als Mensch und Kommissar erlebt. Und der Kommissar wiederum träumt sich ständig als Spatz. Beide sind von der Realität ihrer Existenz natürlich überzeugt, wissen aber, daß der jeweils andere, der Geträumte, das von sich genauso behauptet. Dabei ist das Irreale jeweils die Grenze, die zum anderen hinführt."

Mit dem Roman "Das Leben und Sterben der Flugzeuge" hat Heinrich Steinfest eine abwechslungsreiche, spannende, mitreißende Mehrweltenagentengeschichte, angereichert mit originellen Betrachtungen zu kuriosen zeitgeistigen Entwicklungen (z.B. Kapselkaffeemaschinen) und tierisch-menschlichen Besonderheiten erschaffen, wobei auch die Romantik sowie das große, nicht immer einfache Ja zum Leben nicht zu kurz kommen.
Ein großartiges Leseabenteuer mit kleinen, verzeihlichen Schwächen.

(kre; 09/2016)


Heinrich Steinfest: "Das Leben und Sterben der Flugzeuge"
Piper, 2016. 598 Seiten.
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Lien:
Sandammeer-Interview mit Heinrich Steinfest