Kris Van Steenberge: "Verlangen"
Ein
beeindruckender und unkonventioneller Familienroman
"Verlangen" ist der deutsche Titel des beeindruckenden
Debütromans des 1963 geborenen flämischen Regisseurs
und Dramatikers Kris Van Steenberge. Im Original ist das Buch schlicht
nach jenem Ort benannt, der letztendlich den hintergründigen
Protagonisten dieser Erzählung darstellt, "Woesten". Wieder
einmal darf man sich als Leser freuen, weil diese Übersetzung
wahrscheinlich erst infolge der Einladung der Niederlande und Flanderns
als Gastländer der "Frankfurter Buchmesse" 2016
möglich geworden ist.
Die Erzählung setzt gegen Ende des ausklingenden neunzehnten
Jahrhunderts ein. Woesten ist ein Dorf in Flandern, das in der
Nähe von Ypern und unweit von Dünkirchen liegt.
Elisabeth, die Tochter des Schmieds, lernt Herrn Funke kennen, einen
geheimnisvollen Deutschen, der seit einiger Zeit im Dorf lebt. Er
scheint reich und belesen zu sein. Sie ist fasziniert von seiner
Andersartigkeit und öffnet sich ihm. Er sieht die Begabung des
jungen Mädchens und beginnt, dieses zu fördern. Die
Eltern sehen das mit Argwohn, vermuten, dass der Deutsche, der ihnen
sowieso dubios erscheint, unlautere Absichten hat, und versuchen, die
Freundschaft der beiden zu unterbinden.
"Herr Funke war auch nicht berufstätig. Das hatte
zunächst für Unmut gesorgt, doch als er das ziemlich
heruntergekommene Haus von Zulma - das an der Hauptstraße
stand - von ein paar Arbeitern aus dem Dorf instand setzen
ließ, machte das vieles gut ... Er las gern, fuhr Zweirad und
ging
spazieren,
und er war unverheiratet. Auch das hatte natürlich anfangs
einige Konsternation ausgelöst, aber er erledigte seine
Einkäufe selbst und bezahlte seine Rechnungen im Dorfladen der
alten Thérèse immer bar auf den Tisch ... Nein,
es stand außer Zweifel, Herr Funke war ein manierlicher
Mensch. Trotzdem blieb er der Fremde."
Als Elisabeths Vater eines Abends seinen Tabak in der Dorfschenke
vergisst, schickt er seine Tochter hin, um ihn zu holen. Dort
fällt sie Hendrik auf, dem jüngsten von drei
Brüdern, die allesamt keinen besonders guten Ruf im Dorf
genießen. Während die beiden älteren
Brüder Elisabeth unangenehm bedrängen, stellt sich
Hendrik schützend vor sie und begleitet sie nach Hause. Aus
diesem Treffen entsteht eine zögerliche Liebe, die sich
allerdings aus vielen Gründen nicht entfalten kann. Einerseits
die Konventionen, Hendriks Traum, nach Amerika auszuwandern,
andererseits Gerüchte und der Verdacht, dass Hendrik den
Neffen des Sägewerks, in dem er arbeitet, niedergestochen hat.
Aus Eifersucht.
Elisabeth verliebt sich in den angehenden Arzt Guillaume Duponselle und
nimmt seinen Heiratsantrag an, als sie schon schwanger von ihm ist. Die
Geburt ihres Sohnes, die Guillaume selbst beaufsichtigt,
verläuft sehr gut, und Valentijn erblickt gesund und munter
das Licht der Welt. Nur wenige Minuten später, als bereits
alles vorbei scheint, wird klar, dass Valentijn einen Zwilling hat. Die
Geburt des zweiten Jungen wird zur Qual, der Junge kommt mit stark
deformiertem Gesicht zur Welt und wird vom Vater nur "Namenlos"
genannt. Während Valentijn im ganzen Dorf beliebt ist, wird
sein Bruder geächtet.
"Er schritt resolut ins Zimmer, aber als er die Jungen sah,
blieb er erschüttert stehen. Er hob eine Hand zum Mund, mit
der anderen drückte er die Bibel an seine Brust. 'Mon dieu,
c'est vrai', murmelte er. 'Begrüßen Sie sie ruhig,
sie beißen nicht. Vorerst nicht.' Jetzt lächelte
sie. Pastor Derijke kniete bei den Babys nieder und musterte sie
andächtig."
Die Kinder wachsen, Europa bewegt sich
auf
den Ersten Weltkrieg zu, und die Ehe Elisabeths muss bald
lernen, mit Schwierigkeiten umzugehen, denn Guillaumes psychische
Probleme, die unter Anderem mit der Erinnerung an den Tod des Vaters zu
tun haben, lassen ihn bald zu
Alkohol greifen. Er betrügt
Elisabeth mit einer Prostituierten, und Hendrik kommt aus Amerika
zurück. Der Namenlose kommt im Kloster unter. Und
plötzlich wird Elisabeth ermordet.
Es ist faszinierend, wie Kris Van Steenberge seinen Roman aufgebaut
hat, durch die verschiedenen Erzählperspektiven der Teile des
Romans erfährt der Leser erst sukzessive, was sich eigentlich
abgespielt hat. Nichts ist so, wie es zuerst erscheint. Hier
spürt man die Hand des Dramatikers besonders, denn durch den
Kunstgriff, die Chronologie verschoben parallel zu zeichnen, gelingt es
dem Autor, eine Spannung aufzubauen, die, ohne je in die
oberflächliche Nähe eines Kriminalromans zu kommen,
wirklich mitreißend ist. Auch wenn der Leser erst ganz am
Ende mitgenommen erfährt, was wirklich passiert ist, so ist
der Motor dieses Romans keineswegs die Aufklärung des Mordes
an Elisabeth.
Mehr zu den Verwicklungen zu erzählen, würde dem
potenziellen Leser zu viel vorwegnehmen.
"Verlangen" ist eine psychologisch kongenial erzählte
Sozialstudie, aber auch eine Art historischer Roman, der allerdings
eine zeitlos aktuelle Aussage hat. Zusätzlich ist es ein
Familienroman, der in allen Aspekten eindringlich beeindruckt. Die
Figurenzeichnung ist bestechend, Van Steenberges Prosa glasklar
überzeugend, sie treibt die Erzählung immer
schnörkellos und selbstlos voran. Die Übersetzung von
Waltraud Hüsmert ist wirklich gelungen und lässt den
Leser nie daran denken, eine Übersetzung in den
Händen zu halten.
Somit ist "Verlangen" eine der besonders faszinierenden Entdeckungen
dieses Jahres und der Rezensent großer Hoffnung, dass
"Klett-Cotta" auch den zweiten Roman des Flamen ("Blindelings") bald in
deutscher Übersetzung vorliegen hat.
(Roland Freisitzer; 08/2016)
Kris
Van Steenberge: "Verlangen"
(Originaltitel "Woesten")
Aus
dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Klett-Cotta, 2016. 438 Seiten.
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Lien zur Netzpräsenz des Autors: http://www.krisvansteenberge.be/