Andrzej Stasiuk: "Der Osten"
Osten
Seit ungefähr dreißig Jahren lebt der polnische Autor Andrzej Stasiuk im
kleinen Dorf Wolowiec, welches am Rand der Karpaten liegt. Nur dort
findet er die Ruhe, die Stille, die er zum Arbeiten braucht. Schon bei
seiner ersten Fahrt ins Gebirge als junger Mann wusste er, dass er nicht
in
Warschau würde leben können. Er wusste, dass er einen Ort brauchen
würde, in den die Hysterie unserer Zeit nicht durchdringen könnte. In
Wolowiec scheint er diesen Ort gefunden zu haben.
Ähnlich, weit weg von der Hysterie der Gegenwart, fühlt man sich, wenn
man seinen Roman "Der Osten" liest. Eine herkömmliche Romanhandlung wird
man, falls man sie sucht, hier definitiv nicht finden. Stasiuk geht aufs
Ganze. Er schreibt von der Vertreibung der Menschen, von
Völkerwanderungen und der Vernichtung von Menschen.
Wie auch das Fenster seiner Schreibstube nach Osten schaut, bricht er in
"Der Osten" mit Landkarten bewaffnet in dieselbe Richtung auf. Das alte
Galizien figuriert ebenso wie Russland. Die Mongolei
wird ebenso bereist wie China.
Er ist darauf bedacht, die "Schichten des Lebens" freizulegen, um sie
mit der DNA der Vergangenheit abzugleichen.
"All das stelle ich mir vor. Im Reiche der Kindheit, im Reich der
Unschuld. Im Osten, rechts von der Weichsel. In der Vorhölle. Auf der
Müllhalde menschlicher Reste. In der Finsternis des Kontinents. Man
kann sich nicht lösen von dieser Gegend, von dieser Erde, die wie ein
Schichtkuchen aus Fleisch, Blut und Knochen ist. Aus dieser mit DNA
getränkten Erde. Man kann sich eine biotechnologische Auferstehung
vorstellen. Wie sie sich erheben. Polen, Ukrainer, Juden, Weißrussen
erheben sich, Russen, Kalmücken, Turkmenen erheben sich. Millionen.
Erschossene, Verschüttete, Verbrannte, Abgeschlachtete, Erstickte,
Ertränkte, Erfrorene, Verhungerte."
Andrzej Stasiuk erzählt vom Dorf seiner Großeltern im Osten Polens, das
in der Nähe zu Treblinka liegt, über das nie gesprochen wurde. Er
erzählt vom Einmarsch der Russen und den Auswirkungen auf die
Geschichte. Nicht nur Polens, sondern des ganzen Raumes zwischen der
Ostsee und dem Schwarzen Meer, den man gerne Osten nennt. So betreibt er
literarische Ahnenforschung par excellence, während er der Frage nach
seiner Herkunft nachgeht. Die Pranke der Geschichte, die in Polen wild
gewütet hat, hat zu viele Spuren hinterlassen, um ihnen nicht
nachzugehen. Er erzählt von den Kreuzen, die die Stellen markieren, an
denen die Nachbarn der ukrainischen Minderheit gelebt haben.
Während die lebende Vielfalt in Polen längst verschwunden ist, existiert
sie nur mehr auf Friedhöfen, wo sich die komplexbehaftete, nackte
polnische Seele durch das Fremde nicht gestört führt. Den Verlust der
Vielfalt hat Stasiuk virtuos in seinen literarischen Text eingebettet,
während er die Parallelen zu Flüchtlingsquoten und Xenophobie aufzeigt.
Andrzej Stasiuk sucht nach den Hintergründen und Erklärungen, wobei er
akribisch forschend in die Tiefe geht. Dabei bohrt er längst
verschlossen gemeinte Wunden auf und scheut dabei auch keinen Schmerz.
Seine starke, herbe, doch äußert poetische Sprache ist der rote Faden,
der den Leser auf diese ungewöhnliche Reise mitnimmt.
"Etwa jede Stunde oder alle anderthalb hielten wir an einem Bahnhof.
Xil, Tsagaan Teg, Qiureght, Gurban Obo, Sonid Youqi, Drest, Bayan Har,
Ulaan Had. Nicht an allen, aber drei bis vier Mal ... Alles war
ärmlich und mit Staub bedeck. Ich erinnerte mich an den Flughafen in
Bratsk, die Bar mit der tristen Holzverkleidung und den Bechern, die
von der Hitze in den Händen schmolzen ... Und ich glaubte diesen Staub
zu spüren, obwohl es nieselte."
Während der Reise durch Gegenden, die einst von
Dschingis Khan besucht wurden, wo heute Bahnhofshallen von
chinesischen Händlern bevölkert sind, durch Kälte und Wärme, Steppe und
Wald, stimmen die Stimmen, die Stasiuk zu Wort kommen lässt, zögerlich
in den Chor derjenigen ein, die davon überzeugt sind, dass die
Vergangenheit wiederkommen wird.
Es ist ein tiefgründiger, schonungsloser Roman, den Andrzej Stasiuk hier
abgeliefert hat. Ein Roman, der weh tut, der aber ebenso von einer
ungewöhnlichen, beeindruckenden Schönheit ist, die nur deshalb möglich
ist, weil der Autor "den Osten" liebt, egal wie kritisch er vieles
sieht, wie fremd er sich oft an diesen entlegenen aber auch nahen Orten
fühlt.
Vielleicht der Roman Andrzej Stasiuks mit den geringsten Zutaten eines
Romans, trotzdem aber möglicherweise sein bisher stärkster literarischer
Text. Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 03/2016)
Andrzej
Stasiuk: "Der Osten"
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Suhrkamp, 2016. 295 Seiten.
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