Peter Sloterdijk: "Das Schelling-Projekt"


Peter Sloterdijk lässt die philosophische Sau raus: Der Weg ist das Ziel und andere (Weich-)Teilerkenntnisse

"Statt aller der Bitten, mit welchen ein Schriftsteller seinen Lesern und Beurteilern entgegenkommen kann hier nur eine einzige an die Leser und Beurteiler dieser Schrift, sie entweder gar nicht oder in ihrem ganzen Zusammenhang zu lesen, und entweder alles Urteils sich zu enthalten, oder den Verfasser nur nach dem Ganzen, nicht nach einzelnen aus dem Zusammenhang gerissenen Stellen, zu beurteilen. Es gibt Leser, welche in jede Schrift nur einen flüchtigen Blick werfen, um in der Schnelligkeit irgend etwas aufzufassen, das sie dem Verfasser als Verbrechen aufbürden, oder eine außer dem Zusammenhang unmöglich verständliche Stelle zu finden, mit der sie jedem, der die Schrift nicht selbst gelesen hat, beweisen können, daß der Verfasser Unsinn geschrieben habe." (Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling in "Vom Ich als Prinzip der Philosophie")

Mit diesem E-Briefroman hat sich der am 26. Juni 1947 geborene Philosoph und Buchautor Peter Sloterdijk womöglich einen langgehegten Wunsch erfüllt, zumindest jedoch den einen oder anderen Abstecher in ungewohnte Gefilde gegönnt. Eine bunt zusammengewürfelte selbsternannte Expertentruppe in Sachen weiblicher Orgasmus befasst sich unter dem Joch von Subjektivitätspakt und Ehrlichkeitsvertrag länger als ein Jahr mit dem ausufernd dubiosen Projekt, scheitert erwartungsgemäß kläglich beim Versuch, mittels gekonnt in Worte gefasster heißer Luft öffentliche Gelder in Bonn zu ergattern, und leckt davor und danach nicht nur wissenschaftliche Ego-Wunden.

"Was wir 'Schelling-Projekt' nennen, ist der Versuch, zu den Gründen, Abgründen und Un-Gründen des Werden-Wollenden zurückzugehen und es im Hinblick auf das Rätsel der sexuellen Evolution nachzuvollziehen, namentlich auf der weiblichen Seite." (S. 131)
Das titelgebende Projekt wurde nach einem Hauptvertreter der Philosophie des deutschen Idealismus und einem der bedeutendsten Vertreter der Naturphilosophie benannt: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854), und bereits die Kapitelüberschriften lassen die Stoßrichtung erkennen: "I Unsichere Voraussetzungen", "II Die Evolutionstheorie (Karlsruher Aussprache), Erste Gynäkologie, Minima Schellingiana, Ab ovo", "III Die Form der Enttäuschung".

"Zwischen Biologie und Humanwissenschaften: Zum Problem der Entfaltung luxurierender weiblicher Sexualität auf dem Weg von den Hominiden-Weibchen zu den Homo-sapiens-Frauen aus evolutionstheoretischer Sicht mit ständiger Rücksicht auf die Naturphilosophie des Deutschen Idealismus" - so lautet der blumige Titel des eingereichten Förderungsantrags.

Briefromane bieten stets eine Abfolge fingierter Briefe, die den Austausch zwischen mehreren Personen wiedergeben. Das erstmals umfassende Selbstdarstellungen gestattende Genre erlebte seine Blütezeit im deutschsprachigen Raum übrigens im 18. Jahrhundert.
Vorwiegend besteht Peter Sloterdijks Roman also aus erfundenen elektronischen Korrespondenzen, nur von Sitzungsprotokollen der Projektgruppe unterbrochen. Die Namen einiger Romanfiguren wirken, als wären sie einem franzobelschen Halbschlaf zu verdanken: Guido Mösenlechzner, Desiree zur Lippe, Beatrice von Freygel sowie Agneta Stutensee. In weiteren Rollen: Kurt Silbe und Peer (sic!) Sloterdijk.

Das hochtrabende Projekt dient dem Autor allerdings lediglich als Aufhänger für zahlreiche Demonstrationen und gelehrte Exkurse, die mehr oder weniger beseelten Figuren illustrieren in erster Linie den Wandel von Kommunikationsroutinen und Umgangsformen sowie Gesellschaftsentwicklungen seit den 1960er-Jahren. Geboten werden Erinnerungen (manche experimentale Selbsterfahrungsepisoden sind erkennbar petersloterdijkautobiografisch), ästhetische Fragestellungen, Darstellungen geschichtlicher Entwicklungen und naturwissenschaftlicher Entdeckungen sowie Ausführungen zu allgemeiner und höchstpersönlicher Sexualmoral, irgendwo zwischen Bekenntniswahn und Ironie. Es geht um deutsche Philosophiegeschichte, insbesondere den Deutschen Idealismus, Tod und Jenseitsvorstellungen, Feminismus und andere Verirrungen, Binsenweisheiten, wirre Thesen und flotte Mutmaßungen, um Kurioses aus Anthropologie und Ethnologie, und nicht zuletzt ergibt sich aus der Versuchsanordnung krampfig-unverkrampfte Heiterkeit aufgrund der bemühten Selbstentblößungen, denn jeder der Teilnehmer will interessant, erfahren und qualifiziert wirken; aus weiter Ferne lässt Loriot grüßen.

Als klar ist, dass das Projekt keine öffentlichen Gelder erhalten wird, und es zwischen einigen Mitgliedern zu sexuellen Handlungen im Verlauf des Treffens gekommen ist, verändert sich die Dynamik. Nach einer auferlegten Schweigeperiode beginnt erneut der E-Briefwechsel, die Selbstbespiegelungen scheinen (vorerst?) überwunden, wobei mit einem Mal andere, durchaus ernsthafter behandelte Themen im Vordergrund stehen. Theorie und Praxis haben neuen Schwung erhalten, jedoch ist der Ausgangspunkt unverändert geblieben. So entsteht z.B. eine "Orgasmus-Kantate", einer der Beteiligten entdeckt seine sexuelle Orientierung ganz neu, ein anderer arbeitet an der Oper "Die neun Schreie des Teiresias".
Nach einem rätselhaften Systemausfall meldet sich gar der anno 2008 verstorbene Schriftsteller und Kultursoziologe Nicolaus Sombart mit einem elektronischen Brief aus dem Jenseits zu Wort, spricht der verblüfften Gruppe Mut zu und deutet seine neuesten Erkenntnisse an.
Ebenso unvermittelt, wie man in die Korrespondenzen der Figuren hineingeraten ist, sieht man sich als Leser unsanft hinauskomplimentiert, ohne Ende in Sicht. Der Vorhang schließt sich also nicht vor einer imaginären Bühne, vielmehr wird kurzerhand das Lesepublikum entfernt.

Dass bei einer solchen Romankonstruktion das (wohlkalkulierte?) Risiko des Missverstandenwerdens und Unverstandenbleibens nicht zu unterschätzen ist, bewiesen umgehend einige mediale Hüftschussreaktionen, die sich bisweilen regelrecht an den spärlich eingestreuten Sexszenen festkrallten. "Das Schelling-Projekt" ist aber wahrlich kein erotischer Roman im herkömmlichen Sinn, vielmehr steht die Erotik gleichberechtigt neben anderen menschlichen Gepflogenheiten auf dem Prüfstand der Ironie.

Dem Umstand, dass Positionen und Sprachgebrauch der Romanfiguren nicht durch Vielfalt glänzen, ist in Anbetracht der absichtsvollen Konstruktion wenig bis keine Bedeutung beizumessen, man liest im Grunde ohnedies mit jedem Wort Peter Sloterdijk, der sich die komfortable Extravaganz einer Urheberauffächerung geleistet hat. Freilich sind einzelne E-Briefe unterschiedlicher Beteiligter bekömmlicher als ein wuchtiger Welterklärungsriesenmonolog eines einzelnen Selbstdarstellers; die Portionierung bedingt sozusagen den Appetit.

Nicht immer überzeugend, aber stets lustvoll, kratzt Peter Sloterdijk an bisweilen wohl nur vermeintlichen Tabuthemen der Gegenwart, erlaubt seinen Figuren humorig-peinliche Selbstentblößungen und kreist gebannt um gedankliche Mittelpunkte und körperliche Höhepunkte; keine ungestüme Aufregerliteratur, sondern im besten Fall gedankenanregende Lektüre.
Ob die zahlreichen Fehler gewollt sind, also die dem elektronischen Briefeschreiben anhaftende Schlampigkeit abbilden sollen, oder nicht, sei dahingestellt.

Peter Sloterdijk entlarvt und karikiert jedenfalls kenntnisreich das manchen Spezialwissenschaftsbereichen innewohnende hermetisch-sektiererische Gebaren und beweist, dass auch heutzutage noch von Forschergeist und Sexualität Gebeutelte existieren. Überdies hat er mit "Das Schelling-Projekt" seinen Beitrag zum Bereich "autobiografische Bewältigungsprosa" geleistet.
Dieser Roman, übrigens erst Peter Sloterdijks zweiter, ist mehr als die Summe seiner Teile und fügt sich wohl für jeden Leser zu einem individuell geprägten Ganzen zusammen.

(kre; 09/2016)


Peter Sloterdijk: "Das Schelling-Projekt"
Suhrkamp, 2016. 249 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Was geschah im 20. Jahrhundert?"

Peter Sloterdijk knüpft mit den sechs in diesem Band vereinten, thematisch verbundenen Essays an seine monumentale Trilogie "Sphären" an: In ihr ging es um nicht weniger als um eine Explikation der Entwicklung der Menschheitsgeschichte anhand dieses atmosphärisch-ökologischen Konzepts. Es erlaubt Sloterdijk, das 20. Jahrhundert in ebenso radikaler wie überraschender Weise neu zu beschreiben.
Sloterdijk analysiert diese Ära als eine Zeit der Erfüllungen: Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der triumphierenden Ungeduld, die zu allem fähig ist; es ist das Jahrhundert des sofortigen Vollzugs, in dem das Standrecht der Maßnahmen sich an die Stelle von Geduld, Vertagung und Hoffnung setzt. Diese Epoche kannte nie ein Prinzip Hoffnung, sondern immer nur ein Prinzip Sofort, das sich aus zwei kooperierenden Größen zusammensetzte, dem Prinzip Ungeduld und dem Prinzip Gratis. Diese Prinzipien werden leitende Motive: Es geht von jetzt an immer darum, zu arbeiten, um nicht mehr arbeiten zu müssen. Jede Anstrengung hat nur noch einen vorläufigen Charakter. Man ist zum letzten Mal geduldig, um endlich, nach dem großen Fund, nie mehr geduldig sein zu müssen. Der tiefste Traum Europas ist die Arbeitslosigkeit, die aus dem materiellen Wohlstand entspringt.
Sloterdijk demonstriert, dass solcher Traum nur gelingt, wenn er sich auf einen "universellen Schatz" stützen kann: den gesamten Erdball und dessen uneingeschränkte Ausbeutung.
Wenn das 20. Jahrhundert die Verwirklichung dieser Träume auf die Tagesordnung gesetzt hatte, ohne diese Träume richtig gedeutet zu haben, lässt sich für das 21. Jahrhundert sagen, dass es mit einer neuen Traumdeutung beginnen muss. In dieser wird gefragt werden, auf welche Weise die Menschheit ihre Suche fortsetzt, ohne die wir nicht zu sagen wüssten, was das In-der-Welt-Sein für uns bedeutet. (Suhrkamp)
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