Jaroslav Rudiš: "Nationalstraße"
Milieubericht
aus dem Plattenbau, Stammtischgepolter und Porträt eines
gewaltbereiten Welterklärers:
Ganz Tschechien auf der Nationalstraße? "Vandam" wird er
genannt, nach dem
einschlägig bekannten belgischen Kampfsportschauspieler, und
das nicht grundlos, denn der Lackierer Vandam fackelt nicht
lange, wenn
einer etwas über das Leben von ihm lernen will. Ein
Faustschlag ist schnell ausgeteilt, und manchmal darf es
auch ein
bisschen mehr sein, wenn sich beispielsweise ein Brünner "Provinzprinz"
in das Revier der Prager Platzhirsche verirrt.
"Ich
bin ein Patriot.
Ein Patriot aus der Prager Nordstadt.
Der letzte Krieger.
Der letzte Römer.
Der letzte Tscheche." (S. 28)
"Nationalstraße",
ehrgeizig
als Roman veröffentlicht (allerdings in
Brünn auch als Theaterstück aufgeführt),
beinhaltet hauptsächlich den entlarvenden Monolog eines
egozentrischen Mannes. Was hat man doch alles erlebt, damals in der
glorreichen Wendezeit, und erst davor, in der einstmals
fortschrittlichen Plattenbausiedlung am Wald. Davon zehrt man, mehr
gibt das Leben einfach nicht her, und jedes Mal, wenn es ansatzweise
interessant werden könnte, folgt die lakonische Feststellung: "Aber
das
ist eine andere Geschichte". Irgendwie fast schade, dass
gerade diese Geschichten unerzählt bleiben.
Die augenscheinlich speziell für Deutschland und nicht
für den gesamten deutschsprachigen Büchermarkt tapfer
von
Eva Profousová unter Mitwirkung des Autors
angefertigte Übersetzung enthält viele in
Österreich gänzlich unbekannte und für
Österreicher höchst unschön klingende
Ausdrücke und Formulierungen. Zigaretten werden beispielsweise
als "Fluppen" bezeichnet. Weitere Beispiele: "Aber
ich kann nichts für." (S. 88), " (...) das
alles können die Weiber gar nicht ab." (S. 104), "Mach
die Biege (...)" (S. 107), "Bullerei", "Es
gibt auch keinen Grund zu." (S. 125).
Zweifellos gänzlich misslungen ist der Satz: "Ich
ramm sie Typen wie du in den Arsch, deswegen sehen sie so aus."
(S. 127).
Sich abseits der allgemein gebräuchlichen Hochsprache zu
bewegen, birgt für Schriftsteller stets gewisse Risiken, weil
man mit regional- und schichtspezifischen Ausdrücken nicht im
gesamten Sprachraum auf Verständnis hoffen kann, vom
zweifelhaften Charme solcher Texte einmal ganz abgesehen. Warum
allerdings der Sprachgebrauch der Einwohner eines Prager
Arbeiterviertels ausgerechnet mit anscheinend in gewissen
Arbeitervierteln Deutschlands benutzter Sprache wiedergegeben wird,
entzieht sich dem Verständnis, weil keine zwingende
Notwendigkeit erkennbar ist.
Dass der 1972 geborene
Jaroslav Rudiš nicht nur als Schriftsteller, sondern auch
als Drehbuchautor und Dramatiker in Erscheinung tritt, erklärt
unter Umständen den Stil und die gewählte Form, aber
auch ein Gegenwartsroman darf durchaus mehr zu bieten haben als
direkte
Rede und Kulissen auf 155 großzügig bedruckten
Seiten!
Solange keiner ein Remmidemmi macht, ist alles in Ordnung.
Der frustrierte Vandam labert also geradezu enthemmt über sein
jetziges Elend, über seine Heldentaten, damals, als man anno
1989 auf der Nationalstraße die Samtene Revolution
inganggesetzt hat, über Krieg und Frieden, über
Liegenstütze, Weicheier, echte Männer, Frauen, den
Selbstmord seines Vaters, das Verschwinden seiner Mutter, über
Bonzen, über den Wert "guter alter Handarbeit" und
so weiter und so fort. Bier und Myslivec ölen die Kehlen.
Inzwischen bestimmen Frust und Enttäuschung angesichts des
missratenen Lebens Gedanken und Sprache. Man kennt solche
Zeitgenossen,
zumindest vom Wegschauen aus dem Fernsehen. Das verrauchte Lokal
"Severka" mit der reschen Sylva an der Theke ist eine Oase, wo man mit
Gleichgesinnten über alte und neue Zeiten derb schwadronieren
kann, jeden Abend aufs Neue, man ist in Gesellschaft einsam, kennt
einander und schmort unbewusst in einer Art Vorhölle. Mit
aktuellen Ereignissen muss man sich gar nicht mehr im Detail
auseinandersetzen, man weiß schon, wie der Hase
läuft, woran es überall krankt; das eigene Weltbild
ist zementiert, schuld sind sowieso immer die Anderen.
Es gibt einmaligen
Sex
mit Sylva (bemerkenswerterweise nicht aus der Sicht Vandams
erzählt), linkische Gespräche zwischen Mann und Frau
über die Ex-Frau, das
"Schicksalsweib", über den siebzehnjährigen
Sohn, Drogen, Gefängnisaufenthalt, über Klatsch und
Tratsch in der Betonburg, über Sylvas Schulden, ihre Tochter,
gute und schlechte Zeiten. Doch unausweichlich endet das traute
Beisammensein fatal, nämlich mit einer Prügelei.
Im Anschluss an die Schilderung der teils mit und teils ohne Sylva
verbrachten Nacht ist wieder Vandam selbst am Wort und labert
unverzagt
weiter. Abermals über die Ulme, den alkoholkranken Vater, die
Bedeutung von Konzentration, Schlachten und Krieger vergangener
Epochen, er "springt in der Zeit" und so weiter und
so fort.
Dass er sich wegen Sylva mit einem Schuldeneintreiber, einem
"Ex-Bullen", prügelt, sieht Vandam als seinen "Beitrag
zu Europa" (S. 128), doch diesmal ist er an den Falschen
geraten und geht mit gebrochener Nase zu Boden. Immerhin beschert dies
dem Leser die Einsicht, dass gebrochene Nase nach salziger Marmelade
schmeckt.
Auf welcher Seite Vandam im Jahr 1989 tatsächlich im Einsatz
war, offenbart sich erst gegen Ende. Überhaupt, das Ende!
Lassen Sie sich überraschen, denn für jemanden wie
Vandam unterscheidet sich das Totsein offenbar nicht wesentlich vom
Leben, was doch einen besonderen Einfall des Autors darstellt.
Fraglich bleibt, für welche Zielgruppe
Jaroslav Rudiš diesen "Roman" eigentlich geschrieben hat,
denn vom Leben Frustrierte möchten sich vermutlich lieber
nicht im Spiegel betrachten oder gar vorgeführt wissen,
anderen Lesern sind Umfeld und Ausdrucksweise fremd und
überdies nicht interessant genug, um sich das frivole
Alltagselend der solcherart bloßgestellten Schicht in
Buchform "reinzuziehen", ausgenommen vielleicht
außereuropäische Ethnologen
und nostalgische
Neureiche mit ungestillten Sehnsüchten.
Jaroslav Rudiš erläutert in seinem Nachwort: "Vandam
habe ich in einer Prager Kneipe getroffen." Man
weiß nicht recht, ob man ihn deswegen
beglückwünschen oder bedauern soll. Da fällt
einem doch sofort der Satz "Sprechen Sie nie mit Unbekannten"
aus Bulgakows "Der
Meister
und Margarita" ein.
Im Interview mit seinem deutschen Verlag äußerte der
Autor, seine Vorbilder seien
"Jaroslav
Hašek und Bohumil
Hrabal, natürlich auch Kafka".
Zu dieser geschmackssicheren Wahl kann man ihm immerhin
uneingeschränkt gratulieren.
Erheben wir also unsere Biergläser bei nächster
Gelegenheit auf den tschechischen Humor und das Wohl der Menschheit!
(kre; 03/2016)
Jaroslav
Rudiš: "Nationalstraße"
(Originaltitel "Národní třída")
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová.
Luchterhand Literaturverlag, 2016. 159 Seiten.
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