Tomasz Różycki: "Bestiarium"


Der Traum als Roman und verschiedenen Gegenwarten entrissene Fundstücke

"In der goldenen Seifeblase des Traums, leicht schwebend, im Korridor dieses vom knisternden, fahlen Licht der elektrischen Spannung meines Gehirns beleuchteten Mietshauses, beim Anblick dieses Films, in dem ich die Hauptrolle spielte, da wurde mir klar, dass der Ausgang irgendwo hier sein musste, hinter der nächsten Tür."
(S. 31)

Mit seinem im Original anno 2012 erschienenen "Bestiarium" lässt Tomasz Różycki den Leser im Beisein eines sensibilisierten männlichen Bewusstseins 36 Kapitel lang in eine traumhafte, bisweilen irritierende Verkettung sonderbarer Ereignisse eintauchen.

Laut "Duden" bezeichnet "Bestiarium" ein "mittelalterliches allegorisches Tierbuch (in dem legendäre fantastische Vorstellungen von Tieren heilsgeschichtlich und moralisch gedeutet werden)". Tomasz Różycki geht allerdings mit dieser Begrifflichkeit eher spielerisch um, denn neben Haustieren, einem gewaltigen Nilpferd und alptraumhaften animalischen Quälgeistern treten vor allem Angehörige der Gattung homo sapiens sapiens auf.

Tomasz Różycki, am 29. Mai 1970 in Opole (Oppeln) geboren, versteht es, mit allerlei Mitteln der Sprache aufzutrumpfen, seine von Metaphern geprägte, bildreiche Schreibweise, nicht unbedingt hochliterarische lautnachahmende Einschübe nach Bildergeschichtenart ("knarz-knarz", "tripptrapp", "schlürf schlürf, gluckgluck" usw.), häufige reihenweise Aufzählungen, unbändige Beschreibungsvöllerei und heutzutage eher seltene Adjektivballungen sorgen immerhin für Lektüre mit nachhaltigem Wiedererkennungseffekt. Vielleicht trifft die Bezeichnung "nüchterne Vollrauschsprache" den Kern ...

Die Wahrnehmungen des Erzählers in (nach?) einer alkoholgeschwängerten heißen Julinacht bewegen das erzählende Bewusstsein zunächst in Gesellschaft eines Hundes aus jener Wohnung, in der offenbar ein ausuferndes Trinkgelage stattgefunden hat, in eine ihm teils bekannte, teils unbekannte Stadt, und die Suche nach der eigenen Wohnung samt Frau und Kindern nimmt ihren Lauf. Aus einer Bedrängnis befreit sich der Erzähler, indem er davonschwebt.
Dieser erste Abschnitt geizt fürwahr nicht mit lyrischen Stilelementen und wirkt dadurch stellenweise gefährlich überladen, als wolle der Autor seine Rolle als waschechter Poet mit einer Reihe von Trommelwirbeln und Paukenschlägen in Szene setzen. Doch keine Sorge, zum Glück beherrscht Tomasz Różycki auch andere Formen, somit ist zu Beginn des Romans Durchhaltevermögen gefragt, das sich in weiterer Folge, hat man sich erst einmal eingelesen, über die Maßen lohnt. Denn die mit großartiger Situationskomik und herrlich haarsträubenden Einfällen gespickte Geschichte nimmt zunehmend Fahrt auf, die poetischen Vorzeigeübungen treten zugunsten eines ebenso erstaunlichen wie unterhaltsamen Handlungsverlaufs schnell völlig in den Hintergrund.

Bald durchstreift der Erzähler ein Mietshaus ohne feste Gestalt, wo die todkranke Großmutter Apolonia, früher Besitzerin eines Schlachthofs, die sich vor einem wachsenden Spalt im Fußboden fürchtet und unter der Schuld ihrer Vergangenheit leidet, schon in ihrer Wohnung auf ihn gewartet zu haben scheint. Als Frau Mariana, die Pflegerin, hinzukommt, versteckt sich der von der alten Frau Tolo genannte Erzähler unter dem Bett zwischen allerlei Krimskrams, Getier und Staub, und beobachtet die Szenerie in einem Spiegel. Nachdem beide Frauen eingeschlafen sind, entkommt er der bedrückenden Szene und trifft kurz darauf auf seinen Onkel Jan, der mit seiner dubiosen Gefolgschaft im Keller sonderbaren Beschäftigungen nachgeht, unterstützt durch den entfernten Cousin Fifak, dessen Augen umherwandern können. Recht lustig findet sich der trinkfreudige Onkel während seiner Führung durch diese spezielle Unterwelt, die von jammervollen Gestalten bevölkert wird. Vom Zubereiten ganz spezieller Gerichte liegen Gärgase in der Luft, und die Unterweltbewohner sind auch damit beschäftigt, aus Wohlstandsabfall ein riesiges Floß zusammenzubauen.
Düstere Schauplätze und gequälte Kreaturen in weiten unterirdischen Gewölben (man denke beispielsweise auch an Jiří Kratochvils Romane "Gute Nacht, süße Träume" - mit einem riesigen unterirdischen See, oder an "Das Versprechen des Architekten" - schuldig Gewordene werden in einem erweiterten Bunkersystem gefangengehalten), geheime Labyrinthe und ihre teils heiteren, teils schrecklichen Geschichten, ganze Kellerweltenhöllenkreise, und mittendrin der exzentrische Onkel mit seiner schießenden Pelzmütze als Führer (ein "Anti-Vergil" gar?) und das erzählende Ich unfreiwillig im elektrisierenden Pelz tanzend auf Dantes Spuren. Eine ganz eigene Welt, angetrieben von der Sehnsucht, mithilfe eines wahnwitzigen Plans an die Oberfläche zu bersten, tut sich vor dem Erzähler auf. Bilder von der Kraft und Unverfrorenheit eines Hieronymus Bosch drängen sich auf.

In weiterer Folge geht es um ein Testament, eine Erbschaft, verstecktes Vermögen, Intrigen unter Verwandten, Verschwörungen, nichts Geringeres als den Weltuntergang, um "Lunopol", 311 letzte Atemzüge in Flaschen, einen wundersamen manchmal anschwellenden Universalschüssel, um Nacktheit und einengende Kleidung, um eine mysteriöse Drehorgel in einem magischen Schrein, einen Mann und eine Frau zur Erneuerung der Menschheit, Familien- und Regionalgeschichte, ...
Man trifft auf den künstlerischen Cousin Bronio, der alles zerpflückt und zu Kügelchen dreht, seine Freundin Aniela und deren Deckmäntel, den philosophisch angehauchten, ausgetrockneten Onkel Rykuńcio, der während seines ausladenden Welterklärungsmonologs buchstäblich Feuer fängt, die erregende, situationselastisch duftende Cousine Figa, die sich sowie ihr Hab und Gut vor der drohenden Überschwemmung in Sicherheit bringen will und wie eine aus Ratgeberkolumnen destillierte Figur wirkt. Es wird wüst getrunken, geraucht und zu allerlei Substanzen gegriffen, schwadroniert und über Gott und die Welt gemutmaßt.

Als die Überschwemmung losbricht, findet eine ungustiöse Massenauferstehung, jedoch in kleinerem Maßstab als in Viktor Jerofejews Roman "Die Akimuden", statt, in Panik fliehen die Lebenden und die Toten vor den heranströmenden Wassermassen. Erneut befreit sich der Erzähler, indem er abhebt und wie befohlen die Kirchenglocke läutet. Vom Kirchturm aus bietet sich ihm das Untergangspanorama in seiner Ganzheit dar.
Im Turm finden sich auch noch Frau Mania, Aniela und Bronio, eine anhängliche Meerkatze sowie ein Nilpferd ein. Die Eingeschlossenen fliehen über die Dächer zurück zum Mietshaus, wo bereits Onkel Jan und seine Spießgesellen mit dem Floß (der Arche) warten. "Frau Mania ging nervös auf und ab und seufzte noch ein Weilchen. Ja, wie die Tiere, wie die Tiere. Und was sagt der Herr Priester?, fragte sie mich. Es war mir gleich, also antwortete ich wahrheitsgemäß: Pam pam di di didam. Sie schaute, verzog für längere Zeit das Gesicht." (S. 158)
Längst hat der Erzähler seine Sprache eingebüßt, er kann sich nur noch mit Silbenfolgen wie "pum pum pi dudum" zu Wort melden. Nun wird auch endlich enthüllt, welche dämonischen, bücherfressenden, bissigen Höllenkreaturen für das immer wieder und allerorten hörbare Rascheln und Knistern verantwortlich waren und sind.
Was es mit dem Lecken allgemein auf sich hat, wer die häufig erwähnte Leta ist, was ein letzter Besuch bei Onkel Rykuńcio offenbart, mit welcher List die Teufel in die Irre geführt werden, wie sich ein Dornröschenschlaf ausbreitet, wie der nicht musikalisch bleibende Zweikampf zwischen den widerstreitenden Onkeln, der eine Bruder Feuer, der andere Wasser - also der Kampf zwischen Purgatorium und Sintflut, ausgeht, wohin die Fahrt in Großmutters Bett auf dem riesigen Stadtsee den Erzähler führt, und wer auf diesem Bettfloß erscheint, wie sich Feuerwehrmänner im Fall des Weltuntergangs verhalten, für wen der Schlüssel letztendlich bestimmt ist, und wo sich der Erzähler schließlich mitsamt der Fähigkeit, zu sprechen, wiederfindet, dies und noch viel mehr beschreibt Tomasz Różycki in atemberaubender Dichte, und man bedauert, dass der Traum nicht länger ausgefallen ist.

Von Elementen der Traumwelt durchtränktes Erleben und kunterbunte Assoziationsketten ermöglichen Ausflüge mit religiösem Einschlag in Grenzbereiche der Wahrnehmung. Sofern allerdings Alkohol im Spiel ist, empfiehlt es sich zweifellos, rechtzeitig einen geeigneten Durstlöscher in Griffweite zu positionieren, um allenfalls Visionen von einer durch die Stadt kriechenden Zunge, von vierzigtägigen Regenfällen und einer sintflutartigen Überschwemmung entsprechend begegnen zu können, bevor die bissigen Dämonen erscheinen ...

(kre; 04/2016)


Tomasz Różycki: "Bestiarium"
(Originaltitel "Bestiarium")
Aus dem Polnischen von Marlena Breuer.
Edition.fotoTAPETA Berlin, 2016. 208 Seiten.
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Tomasz Różycki studierte Romanistik an der Krakauer Jagiellonen-Universität und arbeitete anschließend als Französischlehrer am Fremdsprachen-Lehrerkolleg in seiner Heimatstadt. In Polen wurde er vor seinem Durchbruch mit "Zwölf Stationen" aufgrund seiner Lyrik bekannt. Tomasz Różycki arbeitet auch als Übersetzer, hauptsächlich von französischer Lyrik.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Zwölf Stationen"
Eine polnische Großfamilie auf ihrer verrückt-versponnenen Reise in die eigene Vergangenheit.
Eigentlich wollte der namenlose Held in Rózyckis Buch doch nur wieder einmal seine alte Großmutter besuchen, in dem kleinen Opole, in der polnischen Provinz. Doch so ein Besuch hat seine Tücken. So leicht entkommt man den kauzigen Hausbewohnern und der Einladung zur ausladenden Piroggen-Verköstigung nicht. Und ehe er sich versieht, ist er für einen ungewöhnlichen Auftrag auserkoren: Er soll die in ganz Polen verstreuten Verwandten zusammentrommeln, um noch einmal in die Heimat zurückzukehren, aus der sie vor einem halben Jahrhundert vertrieben worden sind. (Sammlung Luchterhand)
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