Gabriel Rolón: "Trauer Panik Leidenschaft"
Geschichten aus der Psychotherapie
Mehr
als aufschlussreiche Frage-und-Antwort-Spiele!
Vermutlich haben viele Leser schon sehnsüchtig auf eine
Fortsetzung der vielfach über Ladentische gegangenen "Wahren
Geschichten
aus der Psychotherapie" gewartet, denn Gabriel
Rolón versteht es, ebenso packend wie unterhaltsam von
Begebenheiten aus seinem Berufsalltag zu erzählen. Aufgrund
seiner Tätigkeit als "bekanntester Analytiker
Argentiniens" (so der Verlag) erhält Gabriel
Rolón Einblicke in außergewöhnliche
Seinszustände und Werdegänge vieler seiner
Mitmenschen, wobei er jedoch nicht einfach nur die Protokolle diverser
Therapiesitzungen in Buchform veröffentlicht, sondern auch
allgemeingültige Aussagen einstreut und bisweilen seine
eigenen Gedanken wie auch Gefühle einfließen
lässt und fachkundige Kommentare einfügt, was sowohl
die Situation zwischen Nähe und Distanz als auch die
Perspektive des Psychoanalytikers veranschaulicht. Anzumerken
ist, dass allem Anschein nach vornehmlich Gutbetuchte bei ihm als
Patienten vorstellig werden.
So sind auch diesmal wieder abwechslungsreiche Fallgeschichten, die
niemanden bloßstellen und doch intime Einblicke in fremde
Lebenswirklichkeiten ermöglichen, zustande gekommen. Als
Therapeut begleitet Gabriel Rolón seine Patienten mitunter
jahrelang, meistens nach akuten Krisen einsetzend, und zeichnet die
aufschlussreichsten Gespräche, folgenreiche Wendungen,
interessante Entdeckungen, Erfolge, aber natürlich auch
frustrierende Situationen und Rückschläge auf, sodass
der Leser nach und nach zusammen mit den Betroffenen hinter die
Kulissen der vom Schicksal (und nicht selten primär von sich
selbst) Gebeutelten spähen und sich seinen Reim auf gewisse
Funktionsweisen der menschlichen Psyche machen kann.
Vor allem legen die anonymisierten Fallbeispiele jedoch Zeugnis vom
Zustand der argentinischen Mittel- und Oberschicht zur Zeit ihrer
Entstehung ab, denn viele Probleme ergeben sich aus dem konkreten
Lebensumfeld in einem bestimmten Kulturkreis.
Gabriel Rolón verwendet übrigens kaum
Fachvokabular, er schildert die Auslese seiner Therapiesitzungen
eventuell auch in der Hoffnung, auf diese Weise auch jene Menschen
für die Psychoanalyse zu interessieren, die sich durch ein
Buch eigentlich lieber "nur" unterhalten lassen möchten.
Allerdings kennt wohl jeder Leser das eine oder andere der
geschilderten Probleme aus eigener Erfahrung oder aus Seifenopern und
kann dank Rolóns schriftstellerischer Ambitionen Zeuge der
Bewältigung und Auflösung sein, wobei die besondere
Bedeutung des Schweigens in passenden Momenten nicht unerwähnt
bleiben und nicht unterschätzt werden darf. Womöglich
bietet das Buch manchem auch wertvolle Anregungen für
individuelle Aha-Erlebnisse.
In "Trauer Panik Leidenschaft" stellt Gabriel Rolón der
Leserschaft fünf Fälle vor:
"Panikattacken - Normas Geschichte": Darin geht es um die langwierige
Suche nach den verborgenen Ursachen der im Büro auftretenden
Panikattacken einer geschiedenen Frau mit Kind: "Norma hat
sich auf der Toilette eingeschlossen. Sie sagt, sie geht nicht wieder
raus. Und sie sagt, sie stirbt gleich. Sie hat mich gebeten, Sie
anzurufen." (S. 19)
"Identität und Gewalt - Lucianas Geschichte": Als Lucianas
Aufgabe stellt sich heraus, ihre Position innerhalb des komplizierten
Familiengefüges zu ergründen, neu zu definieren und
aus der Beziehung mit ihrem gewalttätigen Freund auszubrechen:
"Luciana ließ auch nicht mehr zu, dass Nacho sie
schlug, und sie hatte ihm auch nicht mehr erlaubt, seine sexuellen
Fantasien mit ihr auszuleben." (S. 89)
"Familie, Verlust, Scheitern - Rodolfos Geschichte": Rodolfo und
Gabriel Rolón spüren in der Jugend des Patienten
prägende Vorkommnisse und wiederkehrende Muster auf. "Für
mich blieben einige Frage offen, Dinge, die sich bei mir angesammelt
hatten, ohne dass wir sie bis dahin bearbeiten konnten. So war ich zum
Beispiel überzeugt, dass der Zyklus seiner biografischen
Perioden schon früher begann. (...) Könnte nicht
schon in Rodolfos früher Kindheit etwas Wichtiges geschehen
sein - als er zwei Jahre alt war, oder auch sieben -, was der
Auslöser dieser sich periodisch wiederholenden schmerzhaften
Erfahrungen gewesen wäre?" (S. 184)
"Sexualität, Jugend, Trauer - Rocíos Geschichte":
Roció wird im Alter von 16 Jahren auf Drängen ihrer
Mutter Rolóns Patientin. Ihr Vater ist gestorben, die
Kommunikation mit der Mutter gestaltet sich schwierig. Ein
verstörendes sexuelles Erlebnis belastet das Mädchen
zusätzlich. "Als ich fragte, ob sie einverstanden
sei, dass ich über diesen Teil ihrer Geschichte etwas
schreiben würde, sagte sie sofort ja." (S. 217)
"Vaterschaft, Beziehungen,
Schuld - Víctors Geschichte": Der
verheiratete Familienvater Víctor geht notgedrungen seiner
extremen Triebhaftigkeit auf den Grund, entdeckt sich völlig
neu und entwickelt eine gänzlich andere Lebensperspektive. "Es
ging nicht um seine Untreue, sondern um die Angst davor, was es
für seine Kinder, seine Frau, seine Geschwister und alle
anderen Menschen, die er liebte, bedeuten könnte, dass er
homosexuell
war." (S. 245)
Gabriel Rolón scheint ein Analytiker zu sein, dem die
selbstbestimmte Würde des Menschen
am Herzen liegt, wenngleich
er zielstrebig daran arbeitet, Verborgenes aufzudecken: "Was
mich betrifft, bleibt für mich der Grundsatz entscheidend,
dass das vorrangige Ziel der Psychoanalyse nicht das allgemeine
Wohlbefinden, sondern die Wahrheit des Patienten ist, so sehr es im
analytischen Prozess auch auf und ab gehen mag. Meine Verpflichtung
sehe ich darin, dem Patienten zu helfen, seinem Begehren nicht
auszuweichen, sondern es anzunehmen." (S. 247)
Mit seinen Geschichten aus der Psychotherapie trifft Gabriel
Rolón unbestritten den Nerv der Zeit, denn
Identitätssuche, Selbstbestimmung und Würde betreffen
jeden Menschen.
(Franka Reineke; 02/2016)
Gabriel
Rolón: "Trauer Panik Leidenschaft. Geschichten aus der
Psychotherapie"
(Originaltitel "Palabras cruzadas")
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
btb, 2016. 255 Seiten.
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