Orhan Pamuk: "Diese Fremdheit in mir"
Abenteuer
und Träume des Boza-Verkäufers Mevlut Karatas und
seiner Freunde
Ein aus zahlreichen Perspektiven erzähltes Panorama des
Istanbuler Lebens zwischen 1969 und 2012
Ein Mann von der Straße oder Wie man mit der falschen Frau
glücklich wird
"Diese Fremdheit in mir" ist der Titel des neuen Romans von Orhan
Pamuk, von der Politik seines Landes nicht geschätzt, von den
literarisch interessierten Bürgern der Türkei
allerdings geliebt. Die Geschichte des Boza-Verkäufers Mevlut
zeigt wieder einmal eine neue Seite dieses so wandlungsfähigen
Autors.
Mevlut ist ein gutmütiger und kluger Mensch. Er stammt aus
einem kleinen Dorf in Anatolien. Sein Vater ist
Boza-Verkäufer, der das Geld für die Familie in
Istanbul verdient und nach Hause ins Dorf schickt. Bei einer Hochzeit
sieht er die Frau seiner Träume, kleine Schwester der Braut,
zwischen beiden funkt es, doch dann werden sie getrennt, noch bevor er
ihren Namen in Erfahrung bringen kann. Sein Cousin zweiten Grades nennt
ihm, aus einer Laune heraus, den Namen der älteren Schwester.
Aus der Ferne des Militärdienstes schreibt er, der sich nicht
als Mann der Worte sieht, mit Hilfe seines Cousins Liebesbriefe an
Rayiha, die bald ebenso leidenschaftlich erwidert werden. Die beiden
beschließen, zu fliehen, und wieder hilft der Cousin. Auf der
Flucht bemerkt Mevlet den Irrtum, tut aber das, was er aus Anstand und
Ehre tun muss, er heiratet Rayiha. Sie ziehen nach Istanbul, bekommen
zwei Töchter und sind glücklich. Trotz seines
Glücks hat er dieses besondere Gefühl der Fremdheit
in sich, das allerdings nichts mit seiner Ehe zu tun hat. Es ist ein
Gefühl, das ihn beschleicht, wenn er gewisse Situationen,
Entwicklungen, Handlungen und Auswüchse der rasch wachsenden
Metropole nicht verstehen kann.
Er wird wie sein Vater Boza-Verkäufer, lernt Istanbul und
seine Menschen bei den langen Rundgängen mit Joghurt und Boza
kennen. Jahre später versucht er sich auch mit Reis und Huhn.
Ebenso arbeitet er als Kellner, als Geschäftsführer
eines Lokals, als Parkplatzwächter und als Stromableser.
Dabei beobachtet er und erzählt, was er sieht. Seine
Betrachtung ist eher konservativ, zumindest wenn es darum geht,
Tradition und die Werte zu beschützen, die ihm wichtig sind.
Dazu gehören auch das Essen und das Trinken. Weniger
konservativ ist seine Beobachtung der Politik und der ebenso rasanten
politischen Veränderungen, die kaum mit der
Bevölkerungsexplosion mithalten können. Anfreunden
kann er sich weder mit den strengen, konservativen Regeln, die er aus
seiner anatolischen Heimat kennt, noch mit den radikal linken Ideen
seines besten Freundes.
Während seine Cousins und ihre Familien es mittlerweile zu
großem Reichtum gebracht haben, natürlich nicht mit
ganz legalen Mitteln und auch Mevlut gegenüber nicht
aufrichtig, ist Mevlut dabei geblieben, das zu tun, was er tun kann,
ohne sich dabei untreu zu werden. So ist er noch immer arm.
Mit den Berufen, in denen sich Mevlut immer wieder mehr oder weniger
erfolglos versucht, hat sich Orhan Pamuk ernsthaft
beschäftigt, er hat Stromableser und
Straßenverkäufer intensiv befragt und viel Zeit mit
ihnen verbracht, aus erster Hand Informationen gesammelt, die ihm die
Möglichkeit gegeben haben, die täglichen
Mühen und Abläufe dieser Tätigkeiten so
überzeugend darzustellen, wie ihm das auch gelungen ist.
Während sich Mevlut wie ein Flaneur durch die
Straßen Istanbuls schleppt, beobachtet er, nimmt wahr, denkt
nach und interpretiert. In diesen Gedanken spiegelt sich die
Entwicklung Istanbuls über fast vierzig Jahre hinweg. Wie
Orhan Pamuk das schafft, ist wirklich eine Meisterleistung. Dass die
Übersetzung von Gerhard Meier ausgezeichnet gelungen ist, sei
gleich an dieser Stelle bemerkt. Sehr gelungen auch die immer wieder
eingeschobenen Berichte anderer Protagonisten, die soeben in Mevluts
Erzählung vorgekommen sind. Sie kommentieren, berichtigen,
rücken gerade oder bestätigen Mevluts
Äußerungen, fast so, als würden sie diesen
Roman lesen und einfach kommentieren.
Die Figurenzeichnung Pamuks ist fein und überzeugend gelungen.
Man möchte diesem Mevlut immer wieder gerne unter die Arme
greifen und ihn ein wenig stoßen, damit er seinem Erfolg
weniger im Weg stehen würde, andererseits ist die Konsequenz
seiner Figur beeindruckend. Besonders auffallend sind auch die starken
weiblichen Figuren, die es in diesem Roman wahrscheinlich erstmals im
Schaffen des türkischen Literaturnobelpreisträgers
gibt. Während Mevluts Frau noch Kopftuch trägt, tun
das seine beiden Töchter nicht mehr.
"Diese Fremdheit in mir" ist ein wirklich vielschichtiges Kunstwerk.
Einerseits ist der Roman der Entwicklungsroman einer Stadt, aber auch
Mevluts Entwicklungsroman, es ist ein Roman, der die politischen
Entwicklungen der Türkei
fein durchschimmern lässt,
und es ist ein großer Roman über die Liebe, die
sich, auch wenn sie aus einem Irrtum entstanden ist, über die
Jahre hin unaufhörlich entwickelt.
Ein wirklich ausgezeichneter Roman eines ganz großen Autors.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 02/2016)
Orhan
Pamuk: "Diese Fremdheit in mir"
(Originaltitel "Kafamda Bir Tuhaflik")
Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Hanser, 2016. 592 Seiten.
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