Wilhelm Muster: "Pulverland"


Schriftsteller und andere Fabelwesen auf der Baleareninsel: Musters Metamorphosen

Heutzutage sind die Inseln Ibiza und Formentera als beliebte Touristenziele wohl beinahe jedem Europäer zumindest aus dem Fernsehen bekannt: Traumstrände, abgelegene Buchten, lärmendes Nachtleben, wo sich nicht nur Reiche und Schöne tummeln. Die Inseln dienen in Wilhelm Musters Roman als Schauplätze, nein, vielmehr als Bühnen, freilich sind es die Inseln der Jahre 1959 und 1960, als sich dort schwarmweise Künstler niederließen.

Die österreichischen Teilzeitaussteiger Olga und Ulrich beziehen, von Valencia kommend, auf Ibiza ein gemietetes Haus in Cala Galera. In der Beziehung kriselt es wohl schon seit Längerem, der einige Jahre zurückliegende Tod des gemeinsamen Kindes lastet überdies auf den beiden; eine Porzellanpuppe, das "Zoderwascherl", begleitet das Paar seither.
Bereits auf dem Schiff ergeben sich interessante und folgenreiche Bekanntschaften, doch oberflächlich betrachtet, nimmt zunächst alles einen gewöhnlichen Verlauf.

Der sprachversessene, von Primzahlen angetane Schriftsteller Ulrich arbeitet an Übersetzungen und zwei eigenen Romanprojekten (über einen "ewigen Odysseus" und "Araber"), doch nichts will ihm so recht von der Hand gehen, weshalb er auch für Ablenkungen aller Art, welche die Insel bietet, überaus empfänglich ist. Der "Oberst", die Figur "Németh" sowie zahlreiche Motive aus Musters Roman "Der Tod kommt ohne Trommel" spuken Ulrich gelegentlich im Kopf herum; Wilhelm Muster ließ nämlich immer wieder gern Themen aus seinen früheren Büchern anklingen, überhaupt durchziehen bestimmte Figuren und Inhalte sein Gesamtwerk. Außerdem legte er sichtlich Wert auf kunstvoll verschachtelte Konstruktionen mit Wiedererkennungsgehalt.

Die undurchschaubare Olga (eine Formwandlerin zwischen Frauen- und Katzengestalt?) und Ulrich erkunden zunächst lustvoll gemeinsam die Insel, richten sich im Haus wohnlich ein, diskutieren über Literatur und Kunst - doch eines Tages ist Olga verschwunden, eine entlarvende Abschiedsnachricht alles, was Ulrich geblieben ist. In der Hoffnung, Olga werde eines Tages in menschlicher Gestalt zu ihm zurückkehren, wendet Ulrich sogar Liebeszauber an: Er versteckt Zettel, auf die er mit Tinte Kosenamen geschrieben hat, in Mauerfugen; sobald die Schrift vom Regen verwaschen ist, muss die vermisste Gefährtin heimkehren ... Aufgrund von Olgas Verschwinden gerät Ulrich später sogar unter Mordverdacht und findet sich darob einmal in der Rolle eines unfreiwilligen Beichtvaters eines echten Mörders wieder ...

Wilhelm Muster war selbst jahrelang als freier Schriftsteller und Übersetzer auf Ibiza ansässig, sein Interesse für Märchen und Mythen prägt den Roman "Pulverland" ebenso, wie auch des Autors umfassende Kenntnisse hinsichtlich nicht nur spanischsprachiger Literatur seiner Gegenwart und der Vergangenheit eingeflossen sind, und die Vermutung liegt nahe, die eine oder andere im Roman geschilderte Begebenheit könnte durchaus in der Biografie Musters ihren Ursprung haben.

Nachdem sein Roman "Pulverland" von Publikum und Rezensenten nicht mehr so gut angenommen worden war wie die Vorgängerromane, wechselte Wilhelm Muster vom deutschen Klett-Cotta Verlag zum Grazer Literaturverlag Droschl und verschwand seinerzeit weitgehend aus der Wahrnehmung der Literaturkritik, gewiss eine herbe Enttäuschung für den Schriftsteller, dessen Erstlingswerk, der unter dem Pseudonym "Ulrich Hassler" veröffentlichte Roman "Aller Nächte Tag", auf begeisterte Resonanz gestoßen war.
So schrieb der Schweizer Literaturkritiker und Übersetzer Walter Widmer (Vater von Urs Widmer) einst darüber: "Ein Anfänger? Weiß Gott, nein! Wer mit einem so meisterlichen Werk debütiert, ist wahrlich kein Anfänger!" (Aus dem Klappentext zu Musters Roman "Der Tod kommt ohne Trommel").
Doch Wilhelm Muster erging es wie seinem zeitgenössischen Zunftkollegen Peter Marginter: Beide vermochten mit ihren späteren Werken nicht an die Erfolge ihrer jeweils ersten Romane anzuknüpfen, was wohl nicht zuletzt am damals herrschenden stocknüchternen Belletristikklima lag, das österreichische Fantasien und Nostalgien ungnädig hinwegfegte.

"Pulverland" besteht im Grunde aus höchst unterschiedlichen Szenen und Episoden, diese vereinigen sich erst gegen Ende thematisch, bis dahin entwickeln sich viele Erzählstränge voneinander isoliert. Entweder vollzog Wilhelm Muster den Sprung von Erzählungen zum Roman nicht beherzt genug, oder er hat dies gar nicht beabsichtigt. Wohl nicht von ungefähr trägt Musters Protagonist Ulrich denselben Namen wie die Hauptfigur in Robert Musils monströsem (wenngleich unvollendetem) Jahrhundertroman "Der Mann ohne Eigenschaften", denn diesem wie jenem sind seine Eigenschaften eher gleichgültig, wiewohl sie das Geschilderte maßgeblich mitbeeinflussen.
Besonderes Charakteristikum dieses Romans ist, dass die Hauptfiguren nicht nur schlicht "gewöhnliche Sterbliche" sind, sondern auch Aspekte von mythologischen Wesen und Sagengestalten in sich tragen, was im Verlauf der Handlung zunehmend in den Vordergrund tritt. Bekanntlich hat sich Wilhelm Muster mindestens seit seiner Studienzeit intensiv mit Schamanismus und Märchen auseinandergesetzt und vermutlich auch manche widersprüchliche Seiten seiner Persönlichkeit in seinen Romanfiguren abgebildet.

Wilhelm Muster beherrschte den Umgang mit wechselnden Perspektiven und Stilelementen meisterlich, seiner Rolle als anspruchsvoll-allmächtiger Erschaffer seiner Literaturwelt bestmöglich entsprechend. So finden sich in "Pulverland" neben konventionellen Abschnitten z.B. auch Tagebucheinträge, faustische Passagen und orientalische Märchen.

Der unermesslich reiche, aufdringliche und angeberische Graf Hoyos, der stets gelbe Handschuhe sowie riesige Schuhe trägt, lässt sich mit seiner bizarren Entourage, bestehend aus zwei Frauen, einem schönen taubstummen Knaben, einem Altphilologen, einem Vulkanologen, einem Archäologen (die beiden Letztgenannten sind übrigens ehemalige Insassen einer Irrenanstalt) sowie der Schiffsbesatzung nieder, sein kostspielig umgebauter Lastensegler ankert vor Ibiza.
Der exzentrische Graf "erfreut" den zunehmend entnervten Ulrich mit häufigen Besuchen und vermeintlich bestechenden Ideen für unbedingt festzuhaltende Geschichten. Ulrich ist nicht der erste Schriftsteller, dessen Talent sich der Anfang des 16. Jahrhunderts geborene Graf derart zunutzemachen will.
Das Schiff des Grafen ist mit zusammengestohlenen Antiquitäten angefüllt, auch gibt es dort eine Gemäldegalerie der Ahnen, wobei Ulrich einer porträtierten Dame auffallend ähnlich sieht. Als er sich einmal auf dem Schiff verirrt, entwendet Ulrich aus der Kabine des Grafen das Tagebuch einer Frau.
Von da an werden immer wieder Passagen daraus in den Text eingebaut, bis Ulrich leibhaftig der Spinnenfrau gegenüber steht. Doch endet diese Begegnung anders, als der Graf sie geplant hat, denn Alexandra erkennt in Ulrich den Bären.

Ulrich, der bisweilen mit einem nicht näher bezeichneten "Anderen", den nur er wahrnehmen kann, haarscharfe Dialoge führt, verwandelt sich nämlich in manchen Nächten in einen riesigen Bären und streift dann mit geschärften Sinnen in Tiergestalt umher oder gibt sich den Wonnen der Lust mit der nimmersatten Frau des Gendarmen hin; diese Umtriebe bleiben freilich nicht unbemerkt ...
Pamela, das von seiner schwierigen Mutter Roberta misshandelte Mädchen, ist Ulrich eine begeisterte Zuhörerin, ein sehr lebhaftes, aufmerksames Kind mit besonders klarer Wahrnehmung und bemerkenswerter Auffassungsgabe. Erst später erkennt Ulrich, wer Pamela in Wahrheit für ihn ist, und sie soll ihn auch aus einer brenzligen Situation retten ...
"Ulrich lehrte Pamela eines Vormittags das Lied: 'Flieg, Käfer, flieg!' Sie lernte erstaunlich leicht. Er sagte ihr, was die fremden Wörter bedeuteten, auch, daß er sich immer schon, auch in der Volksschule, gegen 'Pommerland' gewehrt und es durch 'Pulverland' ersetzt habe." (S. 211)
"Pulverland raucht immer, wir merken es nicht. Nur Asche bleibt uns gegenwärtig, der Wind bläst hinein, die Asche wirbelt auf. Immer rinnt Pulverland durch uns, grob- oder feinkörnig, immer sehen wir schwachen Feuerschein am Horizont, immer fehlt Wasser, fehlen die Eimer, um erhalten zu können, Wahrheit wird Lüge, Tagtraum, verwirrend, und tasten wir uns zurück, werden unsere Finger schwarz, der Mund dorrt aus, die Temperaturen sind noch immer ungeheuerlich." (S. 222)

Wie die einheimischen Brunnenbauer bald feststellen, eignet sich Ulrich zum Wünschelrutengeher, er respektiert die Kulturgeschichte der Insel, erlernt die lokale Sprache. Sein besonderes Interesse gilt den Geschichten über den Hauskobold sowie den Inseldämon, und er beschließt, sich diese Geister zunutzezumachen. Tatsächlich gelingt es ihm, den Familià, dem man unentwegt entweder Arbeiten auftragen oder zu essen geben muss, bei Vollmond mithilfe einer List in einer Flasche einzufangen.

Das recht beschwerliche Inselleben nimmt seinen Lauf, Ulrich lässt sich auch mehrfach nicht ungern nötigen, vor einer schwindenden Schar illustrer Zuhörer auf Deutsch aus seinem Odysseus-Roman auf dem Schiff des Grafen vorzulesen. Der Graf hat einst unter Johanna der Wahnsinnigen gedient und dank eines überdosierten geheimnisvollen Wundertranks eine Pestepidemie in Wien überlebt, doch durchläuft er aktuell im Verborgenen eine groteske Verwandlung ...
Auch steuern ein Koch, ein Funker, ein Finanzoberdestillator, ein Bierbrauer und Conchita, die gegen ihren Willen verlobte Tochter einer Bäuerin, die Ulrich schöne Augen macht, die nimmersatte Frau des Gendarmen, der Gehörnte und etliche weitere Figuren ihre Geschichten bei, woraus eine faszinierend dichte Sogwirkung resultiert.

Ein schicksalhaftes Zerwürfnis mit dem ob Ulrichs Zurückweisung tödlich beleidigten Grafen kulminiert in einer apokalyptischen Schlacht, die mit übernatürlichen Mitteln ausgetragen wird und alle zuvor angeschlagenen Motive und Mythenwesen zusammen beziehungsweise gegeneinander führt: Der christliche Teufel, Heerscharen von Dämonen, Armeen aus Vögeln, Hunden, Mäusen und Katzen, Geckos und Eidechsen bekriegen einander. Es kommt zum Wettstreit der Zauberer, Alptraumgestalten und Märchenfiguren treten in die Wirklichkeit ein; "Pulverland" raucht aus allen Schloten.
Insofern erinnert diese Szenerie ein wenig an das Ende von Alfred Kubins Roman "Die andere Seite", wenngleich sich bei Wilhelm Muster keine Aussage über den Demiurgen findet. Vielmehr wartet das Ende von "Pulverland" mit der übergeordneten Perspektive eines ("anderen") Icherzählers auf und entrückt die geschilderten Ereignisse somit gewissermaßen in eine andere Dimension.

Der Schriftsteller Alban Nikolai Herbst führte im März 2006 in seiner Rezension von Musters Roman "Pulverland" aus: "Ganz entsprechend erzählt Wilhelm Muster eben nicht chronologisch linear; er scheidet nicht, sondern fügt zusammen - so daß ein Erzählkontinuum entsteht, das alle diejenigen, die sich darauf einlassen mögen, auf das dichteste, dichterischste, umhüllt und das eine Tiefe hat und die ein Klang füllt, wie es herkömmlich, also linear erzählten und deshalb leichter zugänglichen Büchern für alle Zeit versagt bleiben wird."

Ite, missa est!

(kre; 06/2016)


Wilhelm Muster: "Pulverland"
Klett-Cotta, 1986. 315 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

Robert Zsolnay: "111 Orte auf Ibiza und Formentera, die man gesehen haben muss"

Ibiza im Sommer - Spielplatz des Jetset und Feierhochburg des Planeten, das weiß jeder. Das Schwester-Inselchen Formentera wird von Kennern geschätzt wegen seiner weißen Sandstrände, die in türkisblaues Meer übergehen. Die wahren Reize der beiden Perlen des Mare Nostrum finden sich freilich abseits der dauerlauten Feste und der bekanntesten Strände - dort, wo viel Skurriles schlummert und der Entdecker auf den Spuren einer mehr als 5.000 Jahre alten Geschichte wandert, über die sich Interessantes und Amüsantes erzählen lässt. (Emons)
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