Harry Mulisch: "Siegfried"
Eine schwarze Idylle
Harry
Mulischs überfrachtetes Fantasieexperiment: Sich an Dinge
erinnern, die nie geschehen sind
"Idyll" bezeichnet laut "Duden - Das Herkunftswörterbuch" ein "Bild
friedlichen und einfachen Lebens in (meist) ländlicher
Abgeschiedenheit", im gegenständlichen Fall wohl in
der Abgeschiedenheit des Berghofs. In seinem letzten zu Lebzeiten
veröffentlichten Roman "Siegfried" entwarf Harry Mulisch eine
ganz spezielle "schwarze Idylle", nämlich die Fantasie von
Adolf Hitlers Privatleben als heimlicher Vater, garniert mit einer in
Wien angesiedelten Rahmenhandlung. Überdies gewährte
Harry Mulisch mittels seines Protagonisten Einblicke in sein eigenes
Leben, denn die Hauptfigur in "Siegfried", Rudolf Herter,
trägt eindeutig nicht wenige Züge ihres Erschaffers
(Abstammung, Familiengefüge, Alter, Krankheiten, Status als
Schriftsteller von Rang und Namen, Frauenklischees, Denkbesessenheit
und Privatmythologie, gepaart mit ruheloser
Begeisterungsfähigkeit, Neugier, ...) sowie in seine
Gedankenwelt und den literarischen Schaffensprozess an sich, von der
Idee bis zum Konzept für ein möglichst
spektakuläres Buch, wobei, das soll nicht unerwähnt
bleiben, Mulischs bekannter Hang zu lustvoller Selbsterhöhung
und autodidaktisch ambitionierter Welterklärung mitunter
seltsame Blüten treibt und für Längen, wenn
nicht sogar situationselastische Langeweile, sorgt, denn nicht jeder
Leser bedarf theoretischer Schulung wie die Frau an Herters Seite. Das
Resultat ist ein nicht durchgehend angenehm zu lesender Stil; so
attestierte etwa Stephan Pabst dem Roman in seiner Rezension "Vulgärkabbalistik"
("Der Tagesspiegel", 15.10.2001).
Alles in allem ergibt sich der Eindruck, Mulisch habe in vielen seiner
Bücher die vermeintlich aus seinem fehlenden Schulabschluss
resultierenden Defizite durch Zurschaustellen seiner
außerschulisch erworbenen Kenntnisse
überkompensiert. Er wollte wohl immer allen beweisen, wie sehr
er sich selbst gebildet hatte, wie klug er aus sich selbst heraus
geworden war, wie überlegen er all jenen sein konnte, die
Schulabschlüsse vorzuweisen hatten. Dabei war Harry Mulisch
vor allem abseits seiner naturwissenschaftlich angehauchten Eskapaden
ein brillanter Schriftsteller mit ausgezeichneter Beobachtungsgabe und
zielsicherer Sprache, kein "verrückter Professor", und genau
genommen weiß man bis heute nicht mit Sicherheit, was er mit
seinen theologisch-metaphysisch-mythologisch-alchemistischen
Offenbarungen bezwecken wollte, wie man deren Bedeutung
überhaupt einschätzen soll.
Bekanntlich verfahren Autoren oft und gern nach dem "Pippi
Langstrumpf"-Prinzip:
"Ich mach' mir die Welt (...) wie sie mir gefällt",
freilich handelt es sich bei "Siegfried" um einen Roman, nicht um ein
Sachbuch, weswegen man der dichterischen Freiheit unbedingt Luft und
Raum zugestehen muss. Harry Mulisch dichtete Adolf Hitler und Eva Braun
also kurzerhand einen Sohn namens Siegfried an, eine bis dahin
unbekannte Versuchsanordnung.
Eine andere Herangehensweise wählte der 1967 geborene deutsche
Journalist Timur Vermes, der im Jahr 2012 mit seinem im
"Eichborn"-Verlag erschienenen Debütroman "Er
ist
wieder da" eine in großer Stückzahl
verkaufte, von der Literaturkritik jedoch nicht sonderlich wohlmeinend
aufgenommene Gesellschaftssatire vorlegte, worin er Hitler samt
ureigener Perspektive in das Jahr 2011 versetzt.
Und Norman Ohler, 1970 geborener Autor von Romanen und
Filmdrehbüchern, veröffentlichte anno 2015 sein
erstes Sachbuch unter dem Titel "Der totale Rausch. Drogen im Dritten
Reich" bei "Kiepenheuer & Witsch", das extrem unterschiedliche
Reaktionen hervorrief. Aus dem Klappentext: "Über
Drogen im Dritten Reich ist bislang wenig bekannt. Norman Ohler geht
den Tätern von damals buchstäblich unter die Haut und
schaut direkt in ihre Blutbahnen hinein. Arisch rein ging es darin
nicht zu, sondern chemisch deutsch - und ziemlich toxisch."
"Norman Ohler hat mit seinem Buch 'Der totale Rausch' ein
hochspekulatives Hitler-Spektakel entfacht. (...) Die Vermischung von
sensationshungrigem Hitler-Voyeurismus und wissenschaftlicher
Sachbuchpose ist hochproblematisch", schrieb Helena Barop in
"Die Zeit" (Nr. 47/2015).
Harry Mulisch legte Jahre davor seine spielerische
Geschichtsfiktion vor, nämlich die Geschichte vom kurzen Leben
des erfundenen Sohnes Hitlers.
Das Buch der Spiegel und Spiegelungen: Hitler, zum Greifen fern
Der renommierte niederländische Schriftsteller Rudolf Herter
hält sich also im Jahr 1999 einige Tage in Wien auf, um seinen
umfangreichen Roman über das "Tristan und Isolde"-Thema mit
dem Titel "Die Erfindung der Liebe", (wem käme da nicht
unverzüglich Mulischs eigenes opus magnum "Die
Entdeckung
des Himmels" in den Sinn!), in Fernseh- und
Zeitungsinterviews, auch im Rahmen von Lesungen, vorzustellen und zu
bewerben. Standesgemäß steigt er im noblen "Hotel
Sacher" ab. Seine wesentlich jüngere und gesündere
Freundin Maria begleitet ihn als Geliebte mit Zusatzaufgaben, die
Ehefrau ist mit den beiden Töchtern sowie Herters und Marias
Sohn Marnix in Amsterdam geblieben.
Im Hotel wird zünftig gezecht, ferngesehen, Pfeife geraucht
(jaja, in mancherlei Hinsicht bessere Zeiten!), telefoniert und
diskutiert; Maria und Rudolf Herter sind ein gut eingespieltes Gespann,
der gemeinsame Spross ist naturgemäß auch ein
aufgewecktes Kerlchen (kein Wunder bei diesem Vater, nicht wahr!).
Allerdings beschränkt sich Marias Rolle leider vorwiegend auf
jene einer einfältigen Stichwortgeberin und
alltagstüchtigen Hilfskraft, ihr auffallend
nützlicher Mangel an Bildung ermöglicht erst Herters
ausschweifende Monologe und Belehrungen. Eventuell könnte man
gewisse Aspekte der Beziehung zwischen Rudolf Herter und Maria auch als
Spiegelung von Hitlers Verhältnis zu Eva Braun interpretieren,
wobei Mulischs Frauenbild, wie es in seinen Werken skizziert wird,
ebenfalls prinzipiell kein schmeichelhaftes ist.
"Von der wohltuenden Wirkung körperlicher Liebe
schien er (Hitler, Anm. d. Rez.) in jeder Hinsicht
überzeugt: Ohne sexuelle Liebe gäbe es keine Kunst,
keine Malerei und keine Musik. Keine Kulturnation, das kirchliche
Italien eingeschlossen, komme ohne außerehelichen Verkehr
aus. Über die Art der Kopulationen auf dem Berghof gab
wiederum Morell indirekt Auskunft, als er nach dem Krieg zu Protokoll
gab, Hitler habe ärztliche Untersuchungen mitunter ausfallen
lassen, um Blessuren an seinem Körper zu verbergen, die auf
das aggressive Sexualverhalten Eva Brauns
zurückzuführen seien." (Aus "Der totale
Rausch. Drogen im Dritten Reich" von Norman Ohler, S. 200)
Gleich beim ersten Pressetermin in Wien hat Herter eine seiner Meinung
nach absolut zündende Idee und schweift vom eigentlichen
Gesprächsthema ab: "'Ich möchte von
irgendeiner fiktiven, höchst unwahrscheinlichen,
äußerst phantastischen, doch nicht
unmöglichen Tatsache der mentalen Wirklichkeit zur sozialen
Wirklichkeit. Das ist, so denke ich, der Weg der wahren Kunst: nicht
von unten nach oben, sondern von oben nach unten.'
'Hat man das mit Hitler nicht auch bereits unzählige Male
gemacht?'
'Zweifellos. Ich aber noch nicht.'" (S. 22)
Und sein Wunsch soll in Erfüllung gehen, denn Herter, der mit
seinen eigenen Ansätzen zum Thema nicht recht vorankommt,
erhält überraschend Unterstützung, als nach
seinem Fernsehauftritt, am Ende einer Lesung, ein betagtes Ehepaar,
Julia und Ullrich Falk, mit einer schier unglaublichen Geschichte an
ihn herantritt.
Am nächsten Vormittag fährt Herter zu den Falks, die
ihren Lebensabend in einem ärmlichen Altersheim verbringen.
Bei dünnem Kaffee und Streuselkuchen erfährt der
niederländische Schriftsteller, mit welchem Geheimnis die
alten Leute belastet sind: Eva Braun und Adolf Hitler waren Eltern
eines Sohnes namens Siegfried, was damals jedoch niemand
außer einer Handvoll Eingeweihter wissen durfte; ein Schwur
verpflichtete sie alle zum Schweigen. Die Falks waren als Bedienstete
in Hitlers Haushalt auf dem Obersalzberg im Berghof tätig,
eines Tages erhielt Julia den Befehl, eine Schwangerschaft
vorzutäuschen, und das Kind wurde als jenes des Ehepaars Falk
aufgezogen, denn Adolf Hitlers Bild in der Öffentlichkeit
wäre mit Frau und Sohn unvereinbar gewesen. Der "Chef",
von dem angeblich alle deutschen Frauen Kinder wollten, konnte
nämlich keine offizielle Beziehung führen.
Der muntere Siegfried war ein lebhafter Sonnenschein, mit dem sogar "Onkel
Wolf" (Hitler) gern Umgang pflegte, doch als wenige
Jahre später von Himmler eine Intrige samt Verleumdung
bezüglich Evas Familienstammbaum gesponnen wird, befiehlt
Hitler gnadenlos, Siegfried zu erschießen. Dieser Anordnung
muss der Ziehvater Ullrich Falk schweren Herzens Folge leisten, danach
wird das Ehepaar nach Den Haag versetzt und schweigt viele Jahrzehnte
lang ...
Die aufwühlende Geschichte der Falks nimmt den ohnedies
gesundheitlich angeschlagenen Herter sehr mit. Der erschöpfte
Schriftsteller erleidet noch am selben Abend nach der Rückkehr
ins Hotel einen Herzstillstand, während er seine Gedanken auf
Band spricht. Als Maria das Zimmer betritt, ist Herter tot, in einer
Hand hält er das von Ullrich Falk erhaltene besondere
Stück Blei, seine auf dem Diktafon gespeicherten letzten Worte
sorgen für einen theatralischen Gruseleffekt, und das
Geheimnis bleibt weiterhin gewahrt ...
Durch Herter äußert sich unverkennbar Harry Mulisch
zur deutschen Geistesgeschichte und zum Zweiten Weltkrieg, durch ihn
manövriert er sich in schwindelerregende Auslegungswirbel
hinein, bis zum bitteren Ende wird doziert und spintisiert. So leitet
er beispielsweise Hitlers Daseinsprägung direkt aus Nietzsches
Verstandesverlust ab und entwickelt in ausladenden Monologen ein Bild
von Hitler als Leere, als Nichts, als Singularität inmitten
eines Schwarzen
Lochs.
Lässt man die vielleicht stellenweise nicht uninteressanten,
aber mühsamen Passagen, die Betrachtungen zu einer Seitenlinie
der deutschen Geistesgeschichte, welche die ideologische Basis
für eine bis dahin ungekannte Grausamkeit und Härte
("Herter"!) darstellte, beiseite, bleibt eine reizvolle,
reißerische Geschichte mit düsterem Ausgang,
garniert mit allerlei Lebensweisheiten und Anekdoten aus einem langen
Schriftstellerleben, übrig.
Bisweilen recht geschwätzig und immer von
aufklärerischem Pathos beseelt, breitet Herter seine nicht
gerade leichtverdaulichen Theorien vor seiner Freundin (und somit auch
vor dem Leser) aus bzw. spricht diese auf Band, überhaupt
nicht zimperlich im Umgang mit Beweggründen, metaphysischen
Zusammenhängen und wilden Spekulationen.
Der Roman bietet also erstens die Geschichte von Rudolf Herters
Lesereise nach Wien, zweitens jene "Siegfried"-Geschichte aus fernen
Tagen, die das alte Ehepaar dem Autor erzählt, drittens (im
Raum zwischen Schlaf und Tod geträumte?) Auszüge aus
Eva Brauns fiktivem Tagebuch, die detailliert den ereignisreichen
Zeitraum von 16. bis 28. April 1945 schildern.
Köstliche Szenen von Botschaftsempfängen und der
lieben Not des Autors zwischen Eitelkeiten und Pflichtübungen
bei Lesungen und Signierstunden, wie sie auch
Martin
Walser festgehalten hat, verleihen dem Roman delikate
Würze.
Der Mensch Adolf
Hitler und dessen entsetzliche Wirkung haben Harry Mulisch
zeitlebens beschäftigt, in seinem elften Roman hat er das
Thema wohl zumindest äußerlich zu einem Abschluss
gebracht - und ganz in seinem Sinn das Rätsel
womöglich vergrößert ...
(kre; 08/2016)
Harry
Mulisch: "Siegfried. Eine schwarze Idylle"
(Originaltitel "Siegfried. Een zwarte idylle")
Aus dem Niederländischen übersetzt von Gregor
Seferens.
Gebundene Ausgabe: Hanser, 2001. 192 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
rororo, 2003. 191 Seiten.
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