Harry Mulisch: "Die Prozedur"


Schicksal, Zufall, Missgeschick: Lebensspender, Nebenwirkungen und Konsequenzen

In abwechslungsreich gestalteten Episoden beleuchtet Harry Mulisch das Thema "Erschaffung von Leben", wobei die zu diesem Zweck entwickelten und eingesetzten Methoden höchst unterschiedlich sind. Die Richtung geben Darstellungen von Gemeinsamkeiten tatsächlicher Zeugungsgeschichten und verschiedener Schöpfungsmythen vor, ausgeschmückt wird mit zahlreichen zauberhaften Details, deren Feinheiten sich mitunter erst im Lauf der Lektüre erschließen.

Es geht um nicht weniger als das Spiel mit den Bausteinen des Lebens auf der Erde, die Kombinationen und Resultate. Begonnen wird selbstverständlich mit der göttlichen Schöpfungsgeschichte in unterschiedlichen Kulturen. Außerdem gibt es einen Naturwissenschafter, der im Labor eine einfache Lebensform kreiert hat, einen historischen Prager Wunderrabbi zur Zeit Rudolfs II., der mit seinem Schwiegersohn aufgrund von Unachtsamkeiten beim Schaffensprozess versehentlich einen weiblichen Golem zum Leben erweckt, was verheerende Folgen zeitigt, die Eltern des Naturwissenschafters, die in einer wüsten Szene den späteren Retortenmeister zeugen und sich vor dessen Geburt mit Namenslisten abmühen, den Protagonisten Victor Werker, der auf herkömmliche Weise mit seiner Freundin kein Leben zur Welt zu bringen vermochte, und - nicht zuletzt - das jeweils aus dem Autor und einem Leser bestehende Alchemistenpaar, welches "Die Prozedur" symbolträchtig beseelt.

Versucht sich der größenwahnsinnige Mensch in quasi göttlicher Rolle, sind naturgemäß unerwünschte Nebenwirkungen zu beklagen: Trennungen, Feindschaften, Todesfälle gar. Doch bei aller Tragik sorgen der ausgeklügelte Aufbau, eingestreute amüsante Begebenheiten und Mulischs höchstpersönliches Augenzwinkern dafür, dass "Die Prozedur" trotz gelegentlicher Blutrünstigkeiten einen insgesamt tadellos unterhaltsamen, nichtsdestotrotz nachdenklich stimmenden Roman ergibt.

Gregor Seferens erhielt im Jahr 2000 als erster Preisträger den damals auf Initiative der "Niederländischen Stiftung für Literatur" und des "Literarischen Colloquium Berlin" ins Leben gerufenen "Else-Otten-Preis" für seine Übersetzung des Romans "Die Prozedur". Die Jury bestand aus Maria Csollány, Heinz Eickmans und Hermann Wallmann.
Die Auszeichnung, benannt nach Else Otten (1873-1931), einer überaus produktiven Übersetzerin niederländischer Literatur ins Deutsche im 20. Jahrhundert (z.B. Louis Couperus, Frederik van Eeden, Herman Heijermans), wird alle zwei Jahre für hervorragende Übersetzungen aus dem Niederländischen in die deutsche Sprache vergeben. Das Preisgeld für Gregor Seferens betrug 10.000 DM, finanziert von der "Niederländischen Stiftung für Literatur" und dem "Flämischen Literaturfonds". Aktuell ist es mit 5.000 Euro dotiert.
Seit Bestehen wurden nach Gregor Seferens folgende Übersetzer mit dem Preis ausgezeichnet: Marlene Müller-Haas (2002), Helga van Beuningen (2004), Hanni Ehlers (2006), Waltraud Hüsmert (2008), Andreas Ecke (2010), Christiane Kuby (2012), Rainer Kersten, Bettina Bach (beide 2014), Annette Wunschel (2016).

Zaubersprüche und Formeln, Rituale und Experimente, Schöpfer und Zweifler, Verführer und Widerstände

Victor Werker, seines Zeichens Naturwissenschafter, bezeichnenderweise an Vitiligo leidender weltberühmter Erschaffer des Eobionten und Nobelpreisanwärter (weswegen er an bestimmten Tagen ständig die Telefonleitung freizuhalten bestrebt ist, denn es könnte ja sein, dass ...), ist die Hauptfigur in "Die Prozedur". Nachdem seine Liebesbeziehung mit der Innenarchitektin Clara Veith, inzwischen mit dem hervorragenden Wiener Bariton Dietrich Jäger-Jena liiert, infolge von Werkers unsensiblem Verhalten bei der Totgeburt des gemeinsamen Kindes in die Brüche gegangen ist, irrt Victor Werker fachlich fundiert, dennoch ratlos durch sein Leben. Er fühlt, dass er die Erschaffung des Eobionten nicht wird überbieten können, dass er eigentlich auf dem beruflichen Höhepunkt vor den Trümmern seiner Existenz steht.
Sein missgünstiger Assistent Brock (wohl nicht von ungefähr ein Anhänger Stefan Georges) wächst vor Werkers Gewissen zu monströsen Ausmaßen heran, es kommt zu Verleumdungen, Werker erhält Drohbriefe und anonyme Anrufe; etwas Unheilvolles braut sich zusammen, denn nicht die gesamte Menschheit betrachtet den Eobionten als großartige Errungenschaft, manche mächtige Widersacher erkennen in der Lebensform eine frevelhafte Existenz und in ihrem Erschaffer einen gefährlichen Gotteslästerer.

Im Abschnitt "Akte A, Das Sprechen, Erstes Heft, Der Mensch" wendet sich der Romanautor höchstpersönlich an den Leser und erläutert sein Vorhaben sowie historische Quellen, und zwar absichtlich weitschweifig, um in "Zweites Heft, Die Person" folglich keine "unreinen Mitleser" mehr vorfinden zu müssen. Es geht um das Schreiben als Schöpfungsprozess, die Geburt von Geschichten und die Rolle des Schriftstellers. Der Autor lässt behutsam erste Töne aus Victor Werkers Dasein anklingen, doch dann folgt etwas ganz und gar Mulischtypisches: Zur (scheinbaren) Überraschung des Erzählenden ersteht in "Drittes Heft, Der Golem" plötzlich das historische Prag als Kulisse, und die wunderbare Episode mit Rabbi Löw, seiner Frau Perl, dem unglückseligen Schwiegersohn und dem weiblichen Golem Menschele nimmt ihren verhängnisvollen Lauf.

Sodann wendet sich die Geschichte in "Viertes Heft, Victor Werker" der in allen Einzelheiten geschilderten Zeugung und Geburt des Naturwissenschafters zu, denn Victors Mutter Gretta musste sich seinerzeit einiges einfallen lassen, um den Widerstand des nachwuchsunwilligen Ferdinand zu überwinden. Als Frucht ihrer erotischen Bemühungen erblickt am 20. August 1952 der Stammhalter Victor das Licht der Welt. In diesem Abschnitt finden sich übrigens, wie in etlichen weiteren, Schmankerln aus Harry Mulischs eigener Familiengeschichte.

Der zweite Abschnitt trägt den Titel "Akte B" und beginnt mit dem Kapitel "Der Sprecher": Victor Werker, inzwischen Forscher von Rang und Namen, verfasst tagebuchartige Briefe, in denen er mehr als nebenbei auch seine Weltsicht sowie seine Lebensgeschichte für seine verstorbene Tochter Aurora aufzeichnet, die er seiner Exfreundin Clara nach Wien schickt. Nachdem er gewissermaßen vor seiner Vergangenheit in die USA geflohen ist und vorübergehend an der Universität in Berkeley forscht und vorträgt, meldet er sich aus San Francisco, wo er seine dorthin ausgewanderte Mutter besucht und erfahren hat, dass es drei "Milchbrüder" gibt, die später einmalig in sein Leben treten werden.
Reiseberichte, Beziehungsgeschichten, wissenschaftliche Feststellungen, seinen beruflichen Werdegang, dies alles hält Victor Werker in Briefform fest und umreißt überdies ein Buchprojekt, das den Schlüssel zum Leben beinhalten soll.

In "Sechstes Heft, Zweites Schreiben" lernt Victor in Venedig, wo er an einem Kongress teilnimmt, in "Harry's Bar" (wo sonst!) einen sonderbaren Mann kennen, der ihm in weiterer Folge noch übel mitspielen wird und eine schicksalhafte Funktion zu erfüllen scheint.
In Kairo erforscht Werker mit anderen Wissenschaftern das Erbgut von Affenmumien in Zusammenhang mit HIV, was für lokale Feindseligkeiten sorgt, wie in "Siebentes Heft, Drittes Schreiben" berichtet wird. Auch im Vatikan sitzen einflussreiche Persönlichkeiten, deren Feindschaft sich der Forscher zugezogen hat. Und natürlich intrigiert allem Anschein nach der neiderfüllte und enttäuschte Assistent Brock, der nicht am Entdeckerruhm beteiligt ist, im Hintergrund. Eine explosive Mischung beginnt, Victor Werker zu umschließen.
Parallel zu aktuellen Ereignissen schreibt Werker auch seine private Geschichte nieder, berichtet von der zerbrochenen Beziehung und der Schwangerschaft, die mit der Totgeburt der Tochter Aurora geendet hat. Die schlechten Vorzeichen mehren sich, es ist vom gordischen Knoten die Rede, Symbole kehren in immer neuen Zusammenhängen wieder.
Victor Werkers Passagen sind reich an literarischen Querverweisen, schließlich hat das Motiv der Erschaffung künstlichen Lebens Schriftsteller schon seit der Antike inspiriert, und sehr lebendig gestaltet.

Ab "Akte C, Das Gespräch" tritt ein Erzähler in Erscheinung, der über Victor Werker schreibt, dieser berichtet somit nicht länger selbst. Mit erfolgtem Perspektivwechsel tauchen vermehrt Elemente des Kriminalromangenres auf, Stil und Atmosphäre verändern sich.
Endlich bringt das Kapitel "Achtes Heft, Abend" den ersehnten Besuch der "Milchbrüder" in Werkers Wohnung, die sich in einer umgebauten neugotischen Basilika befindet. Werker hat ausreichend Gelegenheit, Drillinge als besonderes Rätsel des menschlichen Lebens zu studieren und grübelt erneut über die nicht immer nur philosophisch zu erfassenden Dinge zwischen Himmel und Erde.
Erotische Fantasien bietet der Abschnitt "Neuntes Heft, Nacht", während der fassungslose Victor Werker in "Zehntes Heft, Morgen" am Telefon Fremde bei der Vereinbarung eines Mordauftrags aufgrund einer Fehlfunktion im Netz belauscht. Er verbringt daraufhin den langsam aber sicher alptraumartige Züge annehmenden Tag (man fühlt sich an Mulischs Roman "Schwarzes Licht" erinnert) mit Recherchen auf der Polizeiwache und in der Hauptverwaltung der Telefongesellschaft, begegnet erneut dem unheimlichen Kurt Netter, den er aus Venedig kennt, und der ihn zu einem im Fernsehen übertragenen Tribunal mit verstörendem Ergebnis mitnimmt. Das Ende naht unausweichlich in "Zwölftes Heft, Die Verabredung": Victor Werker nimmt wenigahnend seine Henkersmahlzeit ein, hängt in seiner Wohnung düsteren Gedanken, Fantasien und Träumen nach, sieht sich als "Gegenteil von einem Mörder", erlebt noch einen einzigen, vielleicht immerwährenden hellen Moment und ist in diesem Augenblick tatsächlich glücklich.

Für "Die Prozedur" wurde Harry Mulisch anno 1999 der mit einhunderttausend Gulden dotierte "Libris"-Literaturpreis zuerkannt. Aus der Begründung der Jury: "'De procedure' bewijst dat een klassieke roman waarin niets voor niets gebeurt en alles met alles samenhangt, nog altijd indrukwekkende en grootse literatuur kan opleveren."

Harry Mulisch schuf also erneut eine mit zahlreichen autobiografischen Elementen, seinen Lieblingsthemen und scheinbaren Zufällen angereicherte Geschichte. Besonders gelungen ist wohl die in Prag spielende Episode mit Rabbi Löw und dem weiblichen Golem, angesichts der man zutiefst bedauert, dass Mulisch nicht öfter historischen Figuren Einlass in seine Romane gewährt hat, denn beispielsweise die köstliche Szene vom Empfang bei Kaiser Rudolf II. weckt Appetit auf mehr. Oder auch die bühnenreife Schilderung von Werkers Besäufnis, als dieser unter zunehmendem Alkoholeinfluss unterschiedliche Anrufvarianten bei seiner Exfreundin durchspielt.

"Die Prozedur" ist eine charmante Einladung, sich während der Lektüre auf die reizvolle Suche  nach wiederkehrenden Motiven (z.B. Unheil aus schwarzen Augen) einzulassen und Antworten auf die ewige Frage "Was ist Leben?" zu finden.

(kre; 10/2016)


Harry Mulisch: "Die Prozedur"
(Originaltitel "De Procedure")
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens.
Hanser, 1999. 268 Seiten.
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