Harry Mulisch: "Das steinerne Brautbett"


Wie Menschen und Städte ihre Gesichter verlieren und trotzdem weiterexistieren (müssen)

Achilleus jagte Hektor dreimal um Trojas Mauern und tötete ihn - so steht es in Homers Epos "Ilias" geschrieben. In "Das steinerne Brautbett" lässt Harry Mulisch in einer fantasievollen Variation den Zahnarzt Norman Corinth einen suspekten Zeitgenossen dreimal um einen Tisch jagen, bevor er ihn niederschlägt. Nicht nur etliche Anspielungen auf die alte Trojageschichte erlaubte sich Mulisch in diesem Buch, auch andere, vornehmlich mit dem Phänomen Krieg zusammenhängende Stoffe und Figuren aus der Antike verwebte er mit zeitgeschichtlichen Tatsachen zu einem reizvollen Roman.

Jedoch umfassen Mulischs Variationen des Trojanischen Krieges keine zehn Jahre, sondern lediglich knapp zwei Tage und Nächte und beinhalten selbstverständlich wesentlich mehr als Motive und Figuren der "Ilias", diese allerdings kenntnisreich platziert. Dankenswerterweise beschränkte sich der Autor auf eine Handvoll Romanfiguren und eiferte der Riesenbesetzung der "Ilias" nicht nach, wodurch die Bühnenadaption des Romans ermöglicht wurde.
Wer will, kann also hinter den Namen, den gebotenen Kulissen und den zahlreichen Anspielungen historische Dimensionen und Tragödien von antiken Ausmaßen erahnen ...

Harry Mulisch, damals knapp mehr als 30 Jahre alt, spielte gekonnt mit Zeitebenen, Stilmitteln, Klischees und Erwartungshaltungen, weswegen sein im Original anno 1959 erschienener Roman, dessen Handlung im kommunistischen Dresden des Jahres 1956 angesiedelt ist, weit mehr darstellt als ein reines Zeitdokument. So sind auch Erlebnisse und Beobachtungen des Autors in "Das steinerne Brautbett" eingeflossen, denn er kannte die damaligen Zustände aus eigener Anschauung, als zerstörte Menschen zwischen den Ruinen der Stadt, die sich nur langsam wieder aus Schutt und Asche erhob, lebten: "Ich war 1956 in Weimar zu einem Heine-Kongress eingeladen. Als armer Schriftsteller lebte man dort wie ein Millionär und lernte alle kulturellen Größen kennen, Wolfgang Harich, Johannes R. Becher. Und dann hat man mich gefragt, ob man mir die DDR zeigen dürfe. Ich bekam einen Fahrer mit Wagen und eine wunderschöne Dame an meine Seite, die mir alles gezeigt hat. Sie war von der Staatssicherheit, das war mir klar. Aber es war mir egal, sie war ja wunderschön. Wir kamen dann auch nach Dresden, und ich sah nur eine Brache - Dresden war einfach nicht da. Ich schrieb dann das 'Steinerne Brautbett', das erste Mal, dass ich über den Zweiten Weltkrieg schrieb", so Harry Mulisch im am 8. November 2002 in "Der Tagesspiegel" veröffentlichten Interview .

"Der Krieg ist erst dann vorbei, wenn der letzte, der ihn erlebt hat, gestorben ist." (S. 81)

Die Hauptfigur in "Das steinerne Brautbett" ist der aus Baltimore, (wo übrigens anno 1904 gewaltige Brände wüteten), stammende us-amerikanische Zahnarzt Norman Corinth (mit einem gar nicht so diskreten Hauch des römischen Kaisers Nero versehen), 35 Jahre alt, Raucher, umtriebiger Trinker. Er nimmt auf Einladung als einziger us-amerikanischer Gast an einem Zahnärztekongress in Dresden teil, doch seine Interessen gelten keineswegs den kundigen Vorträgen seiner internationalen Kollegenschaft, vielmehr beschäftigt ihn seine auch ihm selbst unklare Mission.

Die Chronologie der Handlung wird von einigen "Gesängen" unterbrochen, dabei handelt es sich um Rückblenden zu den Ereignissen der unheilvollen Kriegsnacht in "homerischem" Stil (siehe nebenstehende Leseprobe). Fast bedauert man, dass Mulisch bei den "Gesängen" vor dem Wagnis niederländischer Hexameter zurückgeschreckt ist.

Seit dem 13. Februar 1945, als er bei Nacht als US-Luftwaffensoldat an dem Fliegerangriff auf Dresden beteiligt war, ist Norman Corinth entstellt: Die Maschine wurde nach einem wahnwitzigen, übermütigen Schandmanöver getroffen, geriet in Brand und stürzte ab. Corinth überlebte zwar und wurde von Ärzten der Roten Armee zusammengeflickt, blieb jedoch verunstaltet ("Pavian").

 

"Über seiner rüttelnden Kanone hängt vier Sekunden lang der blauäugige Corinth, und hinab, zwischen den segelnden Schiffen unter ihnen hindurch, rast das schreckliche Feuer in die Vorstadt. Und im Schwanz ruft der nimmerfehlende Alan die mahnenden Worte: 'Wedel mal, Skipper." So spricht er: Und dann läßt der Landüberstürmer drohend wackeln das angsteinjagende Luftschiff. So wie die Zeit vergeht, auch wenn die Nacht ansteigt in den Augen der Sterbenden, spricht die Stimme des kartenlistigen Harry: 'Noch siebzig Sekunden.' 'Siebzig.' Der junge Patrick lacht, er weiß nicht, zu wem. Das göttlich schöne Antlitz wie ein morgendliches Feld, übersät mit glitzernden Tautropfen, sucht Corinth mit stolzem Auge die sich nähernde Stadt, aber Trauerschleier bedecken schon ihr Angesicht. (...) 'Noch zehn Sekunden!' 'Zehn!' 'Gottverdammt', murmelt der Blauäugige zwischen den Zähnen und sieht unter göttlich gebogenen Augenbrauen zwei Schiffe kollidieren, die brennend, wie Herbstlaub durch das dunkle Luftfeld taumelnd, ein drittes Schiff mitnehmen auf ihren bizarren Weg zur Erde. Doch schon brüllt der kartenlistige Navigator: 'Bomben los!' Und ihm antwortet kreischend der Städtevertilger: 'Bomben los!' Das herrliche Luftschiff schnellt hoch, bäumt sich auf, brüllt vor Wollust aus vier Mäulern, und der Erderschütterer kreischt trampelnd die unsterblichen Worte: 'Heh! Heh! Heh! Los geht's! Heil Hitler! Heil Hitler!' So kreischt er und ist von Sinnen (...)" (S. 93, 94)

Er hat über Dresden sein Gesicht für immer verloren. Die Narben sind jedoch kein Hindernis für seine siegesgewisse Eroberungslust in Bezug auf Frauen oder seine unstillbare Neugier, ganz im Gegenteil.
Überhaupt werden mächtige Zusammenhänge zwischen erotischem Begehren und Kriegseinsätzen offensichtlich.

Corinth, der gelegentlich Stimmen hört und Gestalten wahrzunehmen meint ("grünes Geflüster": Satzfetzen und Erscheinungen,  die Traumbildern ähneln, ohne offenkundigen Bezug zur jeweiligen Situation), trifft in Dresden auf sichtbar und unsichtbar Kriegsversehrte. Gegenseitiges Misstrauen und Lügen über die jüngste Vergangenheit prägen die Atmosphäre. Jeder verheimlicht Dinge aus seinem Leben, jeder fälscht Erinnerungen, verbirgt sich hinter verschleierten Tatsachen und Behauptungen. Die eigene Biografie muss um jeden Preis geheimgehalten und vor Entdeckung geschützt werden; niemand hat eine weiße Weste.
Harry Mulisch schildert Kriegsereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven, denn jeder Mensch hat sich seine höchstpersönliche Wahrheit in Bezug auf die Vergangenheit, sein eigenes Rechtfertigungsmodell für sein Verhalten, gezimmert und ist bestrebt, die innere Leere wie auch immer zu beseelen. Die vormaligen Gegner sind zumindest im Kriegstrauma vereint; manche äußerlich, alle innerlich aufgrund des Erlebten deformiert.

"Als Corinth ihn ansah, sagte er: 'Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Doktor, wenn ich Sie frage.' Er zeigte vage auf Corinths Gesicht. 'Hatten Sie einen Unfall?' (...)
'Das kommt von der Liebe', sagte Corinth.
(S. 26)

Der Zahnärztekongress bildet den durchlässigen Rahmen für die weiteren Geschehnisse, es kommt im kommunistischen Dresden zu mitunter heiklen weltanschaulichen Debatten, zu Diskussionen über das Absurde an Geschichtsschreibung, zu vorübergehenden Annäherungen und bleibenden Feindschaften.

Hella Viebahn (gewissermaßen Mulischs "Helena"-Figur) fungiert als Fremdenführerin und Übersetzerin für die geladenen Gäste. Sie trägt einen Milchzahn an einer Halskette, war angeblich als Kommunistin sechs Jahre lang im KZ interniert. Zwischen ihr und Corinth knistert unverzüglich erotische Spannung, doch in einer Welt der Zerstörung ist keine Illusion von Dauer, verschafft keine Eroberung längerfristig Befriedigung.

Als Unterkunft dient Norman Corinth ein Turmzimmer in einem eigenartigen Haus mit angeblich seltsamer Geschichte; ein Zeitungsartikel über den Erbauer Krschowsky wird gleichsam zu Corinths Landkarte ... Herr Ludwig, der Pensionsinhaber, ist mit den Entwicklungen in der DDR hörbar unzufrieden, was er jedoch nur sehr vorsichtig zum Ausdruck bringt, viel lieber doziert er über vergangene bedeutsame historische Ereignisse in jener Gegend. Ein weiterer Mitbewohner ist der fünfzehnjährige feminine Jüngling Eugène, der Corinth mit seinen nur scheinbar unschuldigen Annäherungsversuchen umgarnt. Auch Hella ist in jenem Haus untergebracht.

Weitere Figuren sind der treue Chauffeur Günther, den die Jahre zurückliegende Begegnung mit Adolf Hitler nach wie vor bewegt, Alexander Schneiderhahn, (der eingangs erwähnte suspekte Zeitgenosse), dem Vernehmen nach Westdeutscher. Er hat angeblich im Krieg seine Familie verloren, aktuell trumpft er als Fotograf von Ruinen und lautstarker Wichtigmacher auf, möglicherweise ist er ein ausländischer Geheimagent. Auch Schneiderhahn ist brennend an Hella interessiert, doch sein plumpes Balzen verbessert lediglich Corinths Ausgangslage.

Als sich Corinth bereits während der langweiligen Eröffnungsrede aus dem Konferenzsaal davonstiehlt, folgen ihm Hella und Schneiderhahn. Gemeinsam mit Günther sucht die Gruppe die Arbeiterkneipe "Alexanders Bar" (!) auf, wo ein vom Krieg gezeichnetes Ehepaar von den unbeschreiblichen Schrecken der Bombennacht erzählt: Menschen standen in der Elbe, um dem Flammeninferno der brennenden Stadt zu entgehen. Damals wurden sie von jenem Bomber aus, in dem auch Corinth saß, gezielt beschossen, was freilich keiner der übrigen Anwesenden weiß - und Corinth hütet sich verständlicherweise, sein Wissen preiszugeben.
In der Kneipe gibt es Streit und eine Schlägerei, die Ordnungshüter erscheinen, und der absolut nicht uneigennützig handelnde Corinth "rettet" Hella. Sie verbringen eine mit Gesprächen und Sex erfüllte Nacht, doch schon am nächsten Tag stellt Corinth einem jungen Mädchen nach und will von Hella nichts mehr wissen, was die Frau, der nur Corinths Hut geblieben ist, ins Grübelunglück stürzt ...
Ein Besuch der Dresdner Gemäldegalerie führt Corinth erneut mit Schneiderhahn zusammen, die beiden Männer hassen einander mehr oder weniger grundlos; es scheint allerdings, dass keiner von ihnen ohne die Präsenz eines zumindest vermeintlich annähernd ebenbürtigen Gegners existieren kann.
Corinth, der seiner inneren Leere, seiner Gefühllosigkeit nichts mehr entgegenzusetzen hat, verunfallt nach seinem blutigen Triumph über Schneiderhahn in wahnsinnigem Gelächter während einer irren Autofahrt, und abermals sucht ihn Feuer heim. Der erwähnte Zeitungsartikel und weitere Lügen breiten den Mantel des Schweigens über die infernalische Schlussszene ...

Im Jahr 2002 wurde Harry Mulisch für seinen literarischen Beitrag zur Versöhnung zwischen Niederländern und Deutschen mit dem "Bundesverdienstkreuz 1. Klasse" ausgezeichnet. Die Laudatio hielt der ebenfalls 1927 geborene Literaturnobelpreisträger Günter Grass. Übrigens bewahrte Harry Mulisch, der ironisch meinte: "In Holland bin ich weltberühmt", seine Orden laut eigener Aussage in Schuhschachteln auf.

Wie tief die Kriegsereignisse im kollektiven Gedächtnis verwurzelt sind, beweist auch die Tatsache, dass das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden aus Anlass des 70. Jahrestags der Bombardierung der Stadt durch britische und us-amerikanische Fliegerverbände am 13. und 14. Februar 1945 unter dem Titel "Schlachthof 5 - Dresdens Zerstörung in literarischen Zeugnissen" im Jahr 2015 eine Sonderausstellung, welche die Verarbeitung der Luftangriffe durch Schriftsteller (darunter Kurt Vonnegut, Erich Kästner und Harry Mulisch) beleuchtete, zeigte.

Der im Jahr 1995 in kongenialer Übersetzung von Gregor Seferens auf Deutsch erschienene Roman "Das steinerne Brautbett" ist und bleibt ein sensationelles Lektüreerlebnis.

(kre; 07/2016)


Harry Mulisch: "Das steinerne Brautbett"
(Originaltitel "Het stenen bruidsbed")
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens.
Suhrkamp, 1995. 183 Seiten.
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