Fiston Mwanza Mujila: "Tram 83"


Durchgeknallt

Vorweg: "Tram 83" ist anders.
Das beginnt damit, dass hier die Erwartungen des Lesers gefoppt werden und nicht eine Straßenbahnlinie im Mittelpunkt steht, es kommt nicht einmal eine vor, sondern ein Nachtklub, der alle Anzeichen einer Spelunke hat. Der "Tram 83" befindet sich in "Stadtland", das offensichtlich die Hauptstadt eines nicht näher definierten Staates in Afrika ist. Irgendwo in der Nähe der Republik Kongo gelegen. Aber auch irgendwo in der Nähe Nordirlands, da eine Zugstrecke als Verbindung zwischen dem Staat in Afrika und Nordirland fungieren soll.

"Tram 83" ist auch deshalb anders, weil es darin wahrscheinlich keine eigentliche Handlung gibt. Zumindest keine, die sich sinnvoll in wenigen Sätzen andeuten ließe. Natürlich gibt es eine, sogar ganze fünf (wenn der Rezensent nicht irrt), doch sind diese Linien so tief im literarischen Dschungel versteckt, dass man sie nicht suchen sollte, um den Roman zu genießen. Am Ende werden einige von selbst klar, andere nicht.

Das "Tram 83" ist eine Art Hölle, aber auch eine moderne Wasserstelle, die dazu dient, alle Wünsche unserer Gesellschaft zu bedienen. Ambitionen, Gier, Begehren und frivole Freuden: all das wird hier bedient, und noch viel mehr.
"Die Toiletten im Tram 83 waren nicht nach Geschlecht oder Herkunft der Touristen getrennt. Um den Reigen der Körper zu begünstigen, waren sie nur spärlich beleuchtet. Requiem und das Mädchen verschwinden in der Höhle und kommen mit verschwitzten Gesichtern wieder heraus. Das Mädchen bemüht sich, den Reißverschluss ihrer engen Jeans wieder hochzuziehen."

Die Tiere, die sich an diesem Wasserloch laben, sind zweibeinige. Von Jazzmusikern, Studenten, Mechanikern (oder Studenten, die Mechanikern ähnlich sind), Predigern, Soldatenwitwen, Frisören, Schuhputzern, Organhändlern, Ärzten, Journalisten, Managern bis hin zu Prostituierten (die Liste geht gefühlt unendlich weiter) tummelt sich hier alles, was seinen Durst und seine Libido bedienen bzw. bedient haben möchte. Nur eine gewisse Alkohol- und Sexbesessenheit scheint alle zu vereinen.
"Regel Nummer 46: Ficke am Tag, ficke in der Nacht, ficke und ficke, denn du weißt nicht, was der nächste Tag dir bringt ... Lucien tastete sich voran. Schwärzeste Nacht. Ein paar Kerzen hier und dort und eine Musikkapelle, die ordentlich einheizte."

Das Personal dieses Romans ist dementsprechend vielzählig, was dazu führt, dass die meisten Figuren auf diesen knapp mehr als zweihundert Seiten nur relative kurze Auftritte haben. Die Hauptprotagonisten, neben dem "Tram 83" natürlich, sind Lucien und Requiem. Lucien ist angehender Schriftsteller, der unter Zensur und Erpressung leidet und Schutz bei Requiem findet. Requiem ist Gauner und betreibt selbst Erpressung. Dieses absurde Freundesgespann stellt die zentrale Achse in diesem Werk dar, das, wenn man einen Vergleich zum Jazz sucht, der immer wieder im Mittelpunkt des Geschehens im "Tram 83" steht, am ehesten mit einer Free-Jazz-Improvisation vergleichbar ist, die ein paar rudimentäre Themen als Ausgangspunkt hat, aber all das passieren lässt, was scheinbar der Fantasie des Improvisierenden, in diesem Fall Mujila, in dem jeweiligen Moment spontan entspringt. Auch wenn dieser Roman in Wahrheit wahrscheinlich sehr wohl durchdacht und genau aufgebaut ist.

"Die Prügel, die er nach seiner Lesung eingesteckt hatte, fesselten ihn ans Bett. Er musste mit siebzehn Stichen genäht werden. Lucien hatte sein Bühnen-Epos fürs Erste auf Eis gelegt. Mit jedem weiteren Albtraum schwanden auch seine Ambitionen dahin. Kopflose Menschen erschienen und rieten ihm, den nächsten Zug zu nehmen, andernfalls würde er sich in der Leichenhalle wiederfinden, Eingeweide herausgerissen, Augen ausgestochen. In einem solchen Klima konnte keine große Literatur entstehen."

Jene Frauen, die das "Tram 83" bevölkern, sind Single-Mamis, also die zwischen Zwanzig- und Vierzigjährigen (die auch dann Single-Mamis genannt werden, wenn sie keine Kinder haben), die Küken, also die unter Sechzehnjährigen, und die Frauen-ohne-Alter, deren festes Alter bei einundvierzig liegt. Die Frauen sind durch den gemeinsamen Wunsch vereint, nicht zu altern, weshalb sie nie ungeschminkt und mit falschen Brüsten auftreten. Ihnen sind alle Mittel recht, um erfolgreich gegen das Altern anzukämpfen, inklusive falscher Namen wie Marylin Monroe und Marlene Dietrich. Kellnerinnen gibt es auch noch, aber die haben lediglich Interesse an Trinkgeld, das allerdings keiner der Protagonisten geben will.
"Die Aushilfskellnerinnen und die Kellnerinnen sträubten sich, endlich das verfluchte Bier zu bringen, das ohnehin in den gemischten Sanitäranlagen landen würde. Regel Nummer 94, Lebensweisheit: Wenn man trinkt, muss man pissen, und wenn man pisst, ist es immer noch euer Bier in eurem Klo."

Wiederholte Phrasen, eine fast obsessive Tendenz zur Repetition, prägen die Momente, in denen der Autor den Leser mit in die verrauchte, stinkende Bude zerrt, um ihn an den morbiden Auswüchsen der Globalisierung und des Krieges anhand der sich im "Tram 83" tummelnden Schicksale teilhaben zu lassen. Das ist oft nicht leicht zu verdauen und ebenso oft auch nur schwer zu lesen. Auch die sehr männliche Betrachtung des Geschehens, inklusive der Frauen in diesem Roman, die aber bewusst so gesetzt ist, um einen bestimmten patriarchalischen Zugang zu zeigen, muss man erst einmal verdauen. So direkt, politisch inkorrekt und unverblümt hat schon lange niemand mehr geschrieben. Nichtsdestotrotz wird man immer von der ungebändigten Energie mitgerissen, die Mujila wie einen Wirbelwind durch seine 208 Seiten schickt.

Fiston Mwanza Mujila, der 1981 in Lubumbashi / Demokratische Republik Kongo geborene und in Graz lebende Autor, hat mit "Tram 83" einen furiosen, originellen Debütroman abgeliefert, der zusätzlich von Katharina Meyer und Lena Müller kongenial übersetzt worden ist. "Tram 83" ist ein Roman, der vom Leser viel fordert, der aber, lässt man sich darauf ein, "fährt wie eine Wildsau". Es ist sicherlich hilfreich, immer wieder laut zu lesen, weil man den Sprachrhythmus so besser nachvollziehen kann. Und das wird die Leserschaft wohl in zwei Lager spalten, weil man diesen Roman wahrscheinlich entweder nur lieben oder nur hassen kann.
Um zu wissen, welchem Lager man angehört, sollte man "Tram 83" lesen.
Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 07/2016)


Fiston Mwanza Mujila: "Tram 83"
Aus dem Französischen von Katharina Meyer und Lena Müller.
Zsolnay, 2016. 208 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen