Terézia Mora: "Die Liebe unter Aliens"

Erzählungen


Spiegel unserer Zeit?

Ein älterer Mann, 57 Jahre alt, der vielleicht aussieht wie 75, einsam, mit Einkaufstasche, in der er neben den Einkäufen Geldbörse und Schlüssel hält. Dazu ein junger Mann, 18 vielleicht. Behutsam, fast verlangsamt, schält sich ein Bild des älteren Mannes aus dem Nichts. Pensionist der Bahn, Sonderling, keine besonderen Attribute, außer vielleicht der Frührente und seine offensichtliche Misanthropie. Alles in Schwebe, bis ihm der Junge die Tasche entreißt und damit flieht. Dass der ehemalige Bahnschaffner Marathonmann genannt wird, weiß der Junge nicht. So beginnt ein Verfolgungslauf, der damit endet, dass der ältere Mann einen jungen Mann schnappt, der allerdings nicht der Dieb ist, sondern wahrscheinlich sein Bruder.
Der diesen Erzählungsband eröffnende Text "Fisch fliegt, Vogel fliegt" ist besonders stark und zementiert bereits eindrucksvoll, was Terézia Mora sich als die über diesen elf sehr unterschiedlichen Erzählungen liegende Grundidee ausgesucht hat. Es ist ein Bild der Trostlosigkeit, der Gefühlsarmut, der Einsamkeit, die in unserer Zeit, oder vielleicht auch nur in diesem Buch, vorherrscht.

Dieses Buch von Terézia Mora ist also wieder ein Erzählungsband, der erste seit ihrem Debüt "Seltsame Materie", dazwischen einige wirklich ausgezeichnete Romane und, auch mehr als verdient, der "Deutsche Buchpreis" für "Das Ungeheuer". In dieser Sammlung zeigt sie auf beeindruckende Art und Weise, wie differenziert und ausdrucksstark ihre Prosa seit dem bereits erfrischend originellen Debüt geworden ist. Eine sprachliche und konzentrierte Virtuosität der Mittel, die in einigen Erzählungen allerdings zu kleinen Einbußen führt.

Sie seziert die Gefühlswelt ihrer Protagonistinnen und Protagonisten. Das Resultat ist, ohne dabei zu dramatisch werden zu wollen, erschreckend. Man fragt sich als Leser: Ist es wirklich so? Heute? In einer Welt, die anscheinend keinen Platz mehr für Bindung, für Mitgefühl, für Zusammenhalt, für Offenheit und Nähe hat?

Da gibt es eine junge Wissenschaftlerin, die es wagt, ihrem langjährigen Freund mitzuteilen, dass er ihr Leben ist. Eine Aussage, die den Mann dazu treibt, sie zu verlassen. Die Wissenschaftlerin versucht den Schmerz der gescheiterten Beziehung durch immer länger werdende Spaziergänge zu verscheuchen. Eine Art davonlaufen, die nicht unähnlich, obschon ganz anders als der Verfolgungslauf des pensionierten Bahnschaffners ist.

Die Verlorenheit von Moras Figuren zeigt sich in den unterschiedlichsten Facetten. Einmal klarer, dann wieder versteckter, einmal überhaupt hinter Nebelwolken, dann wieder ganz klar im Vordergrund. Moras feinem Gespür für Form und Drama ist es zu verdanken, dass keine der Erzählungen zu einem Lamento verkommt. Ihre Pointen sind prägnant und wirken stark nach, sodass sich die Sicht auf die unterschiedlichen Erzählungen lange nach dem Lesen noch verändert, wenn man plötzlich merkt, dass man da oder dort die eine oder andere Sache noch einmal nachlesen möchte, weil genau in dort die Essenz vergraben liegt, die dem Text nochmals eine Wendung verleiht.

Unglückliche, weil unterdrückte Liebe bestimmt das Leid einiger Protagonisten, wie das des Hotelportiers, der seine geliebte Halbschwester nur einmal im Jahr treffen kann. Einfach nur deshalb, weil er sich nicht traut, das von den Eltern auferlegte Kontaktverbot zu missachten. Dass er es auch nicht schafft, der geliebten Halbschwester, die wenig älter als er ist, seine Zuneigung zu gestehen, ist in diesem Kontext nicht verwunderlich. Trost findet er nur im Anblick ihrer Strumpfhose und ihres Schuhwerks. Skurril und im Angesicht des generellen Verständnisses von moralischer oder ethischer Norm gar vielleicht abartig, ist seine Liebe dennoch rein und echt.

Moras Sprache ist wandlungsfähig und bunt. Feingeschliffene Sätze wechseln sich in passenden Situationen mit fast, aber eben nur fast, flapsig gehaltenen umgangssprachlichen Dialogen ab. So entsteht eine Nähe zum Leser, die sich trotz absoluter literarischer Schreibweise nie in einem elitär abgehobenen Elfenbeinturm verliert.

Egal, ob es sich um Tom und Sandy handelt, die übers Wochenende raus aus der Stadt wollen, die am Strand spazieren wollen, die ihre Liebe und ihr Leben genießen wollen, bis eine unerwartete Wendung alles zunichtemacht, oder ob es sich um den japanischen Professor handelt, der sich in eine unerreichbare Göttin verliebt, oder den Sanitäter, der seinen Sohn nur alle heiligen Zeiten sieht, den er über alles liebt, auch wenn er sich eingestehen muss, dass er, wenn er mit ihm zusammen ist, nicht weiß, wie er mit der Situation umgehen soll - Terézia Moras Figuren sind seltsam Getriebene, die in einer Umgebung, die von Taubheit und Gefühllosigkeit bestimmt ist, auf der Suche nach sich selbst, nach Liebe, nach Zuneigung und der Überwindung der Leere sind. Dass diese Bemühungen durch die Außenwelt zunichte gemacht werden, ist Moras dunkler Spiegel unserer Zeit, den sie uns allen, die sich trauen, diese wunderbaren Erzählungen zu lesen, vorhält.

Auch wenn das bisher Geschriebenen auf eine depressive, schaurige und mitleiderregende Lektüre hindeuten - dem ist nicht so. Die 1971 geborene Autorin, die zusätzlich noch eine der bedeutendsten Übersetzerinnen aus dem Ungarischen ist, schafft es nämlich, selbst in den tristesten Passagen Licht durchscheinen zu lassen. Lichtstrahlen, welche die Hoffnung keimen lassen, dass doch nicht alles verloren ist. Dass da noch etwas geht, wenn man nur will.

(Roland Freisitzer; 11/2016)


Terézia Mora: "Die Liebe unter Aliens. Erzählungen"
Luchterhand Literaturverlag, 2016. 267 Seiten.
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