Henry de Monfreid: "Die Geheimnisse des Roten Meeres"
Henry
de Monfreid ist sicherlich einer der großen Abenteurer des
20. Jahrhunderts. Der 1879 geborene Sohn eines Malers und Kunstsammlers
mit guten Kontakten zu den Künstlern seiner Zeit geht 1911 als
Angestellter einer Kaffee-
und Lederhandelsfirma nach Abessinien, um
dort neben dem Verdienst auch seiner Sehnsucht nach dem Meer
nachzugeben. Schnell stellt er allerdings fest, dass die Arbeit im vom
Kolonialrecht und Korruption eingebundenen Handel ihn meist an Land
festhält und auch nicht sonderlich viel Freude bereitet.
Deswegen erwirbt er eine eigene Dhau und beginnt mithilfe einer
einheimischen Besatzung, selbst zwischen den Inseln und den
verschiedenen Abschnitten des italienisch, französisch und
britisch beherrschten Flickwerks aus Kolonialbesitzungen hin und her zu
fahren. Dabei hat er einmal befreite Sklaven an Bord, dann wieder
Haschisch, Morphium und vor allen Dingen immer wieder Waffen, die
überaus begehrte Handelsgüter bei den verschiedenen
Stämmen darstellen.
In diesen Jahren schreibt er auch häufig Briefe an seine
Freunde, die ihn schließlich dazu überreden, seine
vielfältigen Erfahrungen in Buchform zu fassen, wovon der
vorliegende Band den ersten Teil darstellt. Dabei zeigt dieses Buch vor
allen Dingen neben den Lebens- und Handelsumständen in dem
fraglichen Gebiet zwischen 1911 und 1914, jenem Jahr, in dem de
Monfreid verhaftet und zwangskriegsverpflichtet wird, auch die
persönliche Entwicklung und die Lernprozesse des
zunächst noch ziemlich naiven jungen Mannes, der seine
Umgebung mit sehr offenen Augen und relativ unvoreingenommen in
Augenschein nimmt und beurteilt. Ein Ergebnis dieser Beobachtungen und
Erfahrungen ist, dass er sich schon sehr früh in Abessinien
dem muslimischen Glauben zuwendet; eine Tatsache, die ihm
Türen öffnet, die vielen anderen
Kolonialeuropäern verschlossen bleiben und ihm so
vergleichsweise einmalige Beobachtungen ermöglichen, die er
dann an seine Leserschaft weitergibt.
Der reine Abenteuerroman, der durch die Augen, Ohren und anderen
Sinnesorgane des Abenteurers fremde Welten in das Bewusstsein seiner
Leserschaft bringt, könnte zu Beginn des 21. Jahrhunderts
möglicherweise antiquiert erscheinen, aber de Monfreids Art zu
erzählen - und die Dinge, die er erlebt hat - sind auch heute
noch erfrischend zu lesen und können zum Nachdenken anregen.
Wie etwa George Orwell, bewegt sich auch de Monfreid ziemlich kritisch
durch "sein" Kolonialreich und gewährt anhand seiner
Darstellungen Einblick in das, was eine derartige Konstruktion erzeugt,
ohne dabei aber den enormen Pessimismus in
Bezug
auf die menschliche
Natur zu zeigen, der später in Orwells
Verarbeitungen seiner
Erfahrungen in "Farm
der
Tiere" und "1984" seinen Niederschlag finden sollte. De
Monfreid sieht ehrliche und freundliche Menschen, die zwischen
Korruption, Krieg, Sklaverei und Verrat versuchen, so gut zu sein, wie
sie sein können - und er versucht selbst auch
dazuzugehören. So entsteht eine faszinierende und positiv
stimmende Betrachtung einer wichtigen Phase des 20. Jahrhunderts, die
noch sehr stark in unsere Zeit hineinwirkt.
Die vorliegende Ausgabe ziert ein Titelbild, das der Autor selbst
angefertigt hat, und auf den Innenseiten der Buchhülle finden
sich weitere Fotos und Bilder des Autors, von denen manche ebenfalls
von ihm selbst stammen.
Fazit: Eine sehr zufriedenstellende Leseerfahrung.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 05/2016)
Henry
de Monfreid: "Die Geheimnisse des Roten Meeres"
(Originaltitel "Les Secrets de la Mer Rouge")
Aus dem Französischen von Gerhard Meier.
Unionsverlag, 2016. 304 Seiten.
Buch
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