Colum McCann: "Verschwunden"


Schuldgefühle

Der irische Schriftsteller Colum McCann ist hauptsächlich dank seiner großen, meist episch breit angelegten Romane bekannt. Ein Schaffen, das besonders vielseitig in seiner Thematik ist. Da gibt es die beiden sehr unterschiedlichen New York-Romane "Der Himmel unter der Stadt" und "Die große Welt", ebenso wie den Roman "Zoli", der sich mit dem Leben einer außergewöhnlichen, starken Roma beschäftigt, und den Roman "Der Tänzer" über das Leben Rudolf Nurejews. Der zuletzt erschienene Roman Colum McCanns war "Transatlantik". Dazwischen hat er immer wieder Erzählungen veröffentlich, die bisher in drei Bänden zusammengefasst erschienen sind. Zwei davon in deutscher Sprache. Der zuletzt erschienene Band "Thirteen Ways of Looking", im Original im Herbst 2015 bei "Atlantic Books" erschienen, ist derzeit noch nicht auf Deutsch erhältlich.
Bei "Verschwunden" handelt es sich um eine Erzählung aus diesem Band, die hier vorab als Einzelausgabe der "Edition Klattegat" des "Dörlemann Verlags" vorliegt. Die "Edition Klattegat" ist ein Projekt von Nikolaus Hansen, das sich mit Erzählungen beschäftigt, die alle eine Verbindung zum Meer aufweisen. Die Geschichten und Geheimnisse des Meeres, die Sehnsüchte, die sich darin spiegeln.

Rebecca lebt mit ihrem Adoptivsohn Tomas in Galway, einem kleinen Ort an der irischen Küste. Sie ist Übersetzerin aus dem Hebräischen und lebt mehr schlecht als recht von den immer weniger werdenden Aufträgen. Tomas stammt aus Wladiwostok und leidet an dem "Fetalen Alkoholsyndrom". Der Kinderwunsch war so stark, dass ihr Mann und sie alles taten, um ein Kind zu adoptieren, um ihm die Liebe geben zu können, welche sie zu geben hatten. Nun, sieben Jahre später, sind sie getrennt, und Rebecca verbringt das erste Weihnachtsfest gemeinsam mit Tomas an der Atlantikküste.

Ihr Weihnachtsgeschenk für Tomas ist ein um zwei Nummern zu großer Neoprenanzug (damit Tomas hineinwachsen kann), den er sich sehnlichst gewünscht hat, weil seine große Liebe das Schwimmen im Meer ist. In der Nacht nach dem Fest arbeitet Rebecca in ihren Gedanken die Beziehung und ihre Vergangenheit auf. Sie trinkt etwas zu viel Wein und nimmt auch ein paar Tabletten, was dazu führt, dass sie etwas später als sonst aufwacht.

Als sie nach Tomas sehen will, bemerkt sie, dass er und der Neoprenanzug verschwunden sind. Sie stürzt sich in die Fluten, auf der Suche nach Tomas, nachdem sie ihren Ex-Mann informiert hat. Dieser benachrichtigt die Polizei und reist selbst aus Dublin an, während eine groß angelegte Suchaktion startet, die länger als 48 Stunden dauern wird.

Colum McCann schafft es, mit feinen Pinselstrichen ein differenziertes Psychogramm der Schuldgefühle zu zeichnen, das den Zustand zeigt, in dem sich ein Elternteil in Sorge um sein vermisstes Kind befindet. Der Originaltitel "Sh'khol" aus dem Hebräischen bedeutet auch "ein Elternteil, der sein Kind verloren hat". Ein Wort, das sich, anders als beispielsweise das Wort Waise, offenbar in keiner anderen Sprache der Welt findet. Sehr elegant auch Colum McCanns Brückenschlag zu diesem Wort über die Tätigkeit der Protagonistin. Unsentimental, aber mit feiner, poetischer Sprache, hervorragend übersetzt von Dirk van Gunsteren, spinnt er diese Erzählung zwischen dem Bohren auf der Suche nach der eigenen Schuld und der Entwicklung der Erzählung. Es ist ein wirklicher Genuss, diesen kunstvoll schlichten, einfach hervorragenden Text zu lesen.

Die etwas überraschende Schlusswendung, über die hier nicht mehr verraten werden soll, rundet die Erzählung versöhnlich, aber nachdenklich ab.

Die Erzählung selbst nimmt leider nur rund zwei Drittel der an die 90 großzügig bedruckten Seiten dieses kleinformatigen Buches ein, das sehr ansprechend aufgemacht ist. Selbst bei einem sehr langsamen, genussvollen Lesetempo hat man das Ende dieser wunderschönen Erzählung viel zu schnell erreicht. Das letzte Drittel besteht aus Aufzeichnungen Nikolaus Hansens über verschiedene Treffen mit Colum McCann und kann ein wenig als Werbetext für das weitere Schaffen des Autors interpretiert werden.

So wertvoll und bestechend diese Veröffentlichung auch ist, ist es gleichzeitig auch jammerschade, dass nicht gleich der komplette Erzählungsband "Thirteen Ways of Looking" auf Deutsch erschienen ist.

Sehr starke Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 02/2016)


Colum McCann: "Verschwunden"
(Originaltitel "Sh'khol")
Aus dem Englischen von Dirk Van Gunsteren.
Mit einem Geleitwort von Nikolaus Hansen.
Edition Klattegat bei Dörlemann, 2016. 93 Seiten.
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