Henning Mankell: "Die schwedischen Gummistiefel"
"Eines
Tages werde ich in das Land eintreten, in dem das Gedächtnis
vom Vergessen verschluckt wird." (Henning Mankell)
Es ist lange her, dass ich mit den literarischen Werken von Henning
Mankell in Berührung gekommen bin. Vielleicht zwei Jahrzehnte.
Was diesen Autor immer ausgezeichnet hat, war die
Vielfältigkeit seines Schaffens. Kein Roman war wie der
andere. Manchmal habe ich mich über - aus meiner Sicht - gar
nicht gelungene Geschichten geärgert, doch das waren
Ausnahmen. Der überwiegende Teil hat mich in Bann geschlagen,
mich träumen lassen. Ich sah Kommissar Wallander vor mir, wie
er behäbig durch Ystad stapft und eine Oper nicht aus seinem
Kopf bekommt. Oder bewegte mich in Mocambique auf den Spuren eines
Jungen, der eine überbordende Fantasie hat und trotz seines
Daseins als Straßenjunge nie den Glauben an eine für
ihn bessere Welt verliert.
Henning Mankell zählt zu meinen Lieblingsautoren. Er tut dies
auch noch jetzt, da er sich nicht mehr auf Erden aufhält. Ich
glaube, er freut sich darüber, dass ich jetzt diese Zeilen
über ihn schreibe. Mit seinem letzten Roman hat er ein
Stück Literatur geschaffen, wie sie wohl nur selten
zustandekommt. Im Angesicht des Todes war er bereit, sein Werk zu
vollenden. Eine Leistung, die nicht hoch genug eingestuft werden kann.
Hans
Küng, der Theologe und
Begründer des
Weltethos, hat etwas getan, das Mankells Vorgehen sehr nahe kommt. Er
verkündete, sein Werk sei nun abgeschlossen, er habe alles
geschrieben, was zu schreiben notwendig war. Nun, mancher Leser wird
sich fragen, ob dies je ein Autor meinen kann: "Ich sehe mein Werk als
abgeschlossen an". Ich teile diese Auffassung. Im Werk eines Autors
spiegelt sich sein Weltbild wider, seine Sicht auf die bewegten und
unbewegten Dinge, auf das Wesen des Menschen und überhaupt der
Schöpfung. Wer glaubt, ein Autor könne sich in seinem
Werk verstecken und nichts von sich preisgeben, irrt gewaltig. Menschen
sind keine Maschinen und haben das Bedürfnis, ihre Wahrheit zu
suchen. Künstler teilen ihre Wahrheitssuche mit Lesern und
Betrachtern. Und wenn ein Autor zu erkennen glaubt, dass er seine
Weltsicht in all ihren Verschränkungen zur Genüge
dargestellt hat, dann ist sein Werk vollendet, auch wenn er noch nicht
tot ist. Was er mitzuteilen hatte, hat er mitgeteilt und wird
für immer in seinem Werk manifestiert sein.
Der letzte Roman von Henning Mankell hat mehrere Ebenen. Er zeigt
Menschen auf der Suche nach ihrer Wahrheit. Er begibt sich auf
Sinnsuche. Und er begibt sich mit seinen Lesern auf ein Abenteuer ohne
Wiederkehr. Mir ist beim Lesen etwas passiert, woran ich schon gar
nicht mehr zu glauben gewagt hatte. Eine Passage aus dem Roman hat mich
dermaßen mitgerissen, dass ich zum Teil der Geschichte wurde.
Ich erlebte mit dem pensionierten Arzt Fredrik Welin, den ich noch aus "Die
italienischen Schuhe" kenne, eine Zugfahrt von Paris bis nach
Stockholm. Er reist gemeinsam mit einer Frau, die seine Tochter sein
könnte. Es ist ein zartes, freundschaftliches
Verhältnis, das die beiden auszeichnet. Und es gibt
Widersprüchlichkeiten beider Charaktere, an denen der jeweils
andere immer wieder abprallt. Nun, ich war innerlich so hingerissen von
dieser Passage, dass ich in der Schnellbahn weiter reiste, als ich
wollte. Eine Parallelität mit Seltenheitswert.
Ich könnte Hunderte Dinge in diesen Roman
hineininterpretieren, aber nichts davon würde diesem
tiefgehenden Werk gerecht werden. Es geht um Abschied, um Trauer, um
die Frage, wie sehr wir andere Menschen zu kennen glauben. Und es geht
- und das wohl in erster Linie - um den Tod und den Umgang damit. Durch
die existenziellen Aspekte des Romans kam mir Henning Mankell nahe wie
noch nie. Ich weiß nicht, ob es sich um ein in literarischer
Hinsicht großartiges Werk handelt. Das spielt aber auch keine
Rolle. Der Roman ist nämlich selbst ein Abschied.
Henning
Mankell winkt seinen Lesern zu und hat dabei ein Lächeln auf
den Lippen.
"Ich sitze in Arlanda und warte. Ich glaube, ich habe mich in
meinem ganzen Leben noch nie so einsam gefühlt. Wie es wird,
wenn ich tot bin, weiß ich nicht."
"Wie meinst du das?"
"Dass der Tod ein sehr einsamer Ort zu sein scheint und ein ebenso
einsamer Zustand."
Dialoge und Gedanken, die den Tod im Fokus haben, gibt es im Buch
viele. Und es sterben Menschen plötzlich und unerwartet. Welin
glaubt, von mehr Toten als Lebenden umgeben zu sein. Er weiß,
dass er bald auch dieses Reich der Toten bevölkern wird. Damit
ist er nicht allein, Menschen sind, wie alle Lebewesen, sterblich. Die
Geburt seiner Enkelin ist so etwas wie der Kontrapunkt zu der
Todessehnsucht, die sich in ihm breit macht. Aber er versucht so
gelassen wie möglich seine
letzte Reise anzutreten.
Die Rahmenhandlung ist nicht wahnsinnig wichtig. Welins Haus brennt ab,
und er muss sich die Frage stellen, ob es sich überhaupt noch
lohnt, ein neues Haus errichten zu lassen. Wer diesen Brand gelegt hat,
und wann er endlich passende Gummistiefel geliefert bekommen wird, sind
zwei Konstanten, die sich durch die Geschichte ziehen.
Welin begibt sich oft auf die Reise. Meist mit seinem Boot, er steuert
immer wieder seine Insel an, nachdem er dem Festland einen Besuch
abgestattet hat. Aber er fährt auch mit dem Auto, und von der
Fahrt mit dem Zug habe ich ja schon berichtet. Eine Reise sollte immer
ein Ziel haben, doch was, wenn die Lebensreise zu Ende ist? Niemand
kennt die Antwort darauf. Machte es sich Epikur
zu leicht, indem er meinte: "Der Tod
geht mich eigentlich nichts an. Denn wenn er ist, bin ich nicht mehr,
und solange ich bin, ist er nicht"?
Henning Mankell hat uns noch Lebenden eine Erfahrung voraus: Jene des
Todes. Seine letzten beiden Werke sind seine persönlichsten. "Treibsand"
ist eine ungewöhnliche Autobiografie, und "Die schwedischen
Gummistiefel" ein Roman, der eng an diese Autobiografie angelehnt ist.
Es scheint so, als sei an beiden Werken zumindest teilweise
gleichzeitig geschrieben worden.
Wer diesen letzten Roman Henning Mankells liest und sich mit aller
Konsequenz darauf einlässt, der könnte sich sogar
denken, dass ... Aber ich will ja nicht vorgreifen. Jeder Leser wird
seine eigene Erfahrung mit jenem Roman machen, der das Werk von Henning
Mankell vollendet hat. Danke, Henning Mankell, für die vielen
schönen Lesestunden, die Sie mir beschert haben und noch
bescheren werden. Ihr letzter Roman hat mich ganz besonders
berührt und mir gezeigt, dass Sie in Ihrem letzten
Lebensabschnitt den Tod als Freund gewonnen haben.
(Jürgen Heimlich; 09/2016)
Henning
Mankell: "Die schwedischen Gummistiefel"
(Originaltitel "Svenska gummistövlar")
Übersetzt aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Zsolnay, 2016. 480 Seiten.
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