Diogo Mainardi: "Der Fall"
Erinnerungen eines Vaters in 424 Schritten
Wenn Schritte ein Leben
erzählen
Er zählt jeden Schritt. Jeden einzelnen Schritt, den sein Sohn Tito ohne
Hilfe und ohne zu fallen geht. Zuerst waren es sechzehn Schritte, dann
vierundvierzig, dann einhundert, dreihundert, bis der Vater aufhört zu
zählen. Sie sind in Venedig
spaziert, mit den Schritten als Maßeinheit, welche die Entfernungen der
Stadt anzeigen. Bis sie schließlich vor der Scuola Grande di San Marco
landen, dem Krankenhaus von Venedig, wo alles angefangen hat. Dort,
hinter der prächtigen Renaissancefassade von Pietro Lombardo kam der
Sohn zur Welt. Im Leib der Mutter noch kerngesund, erlitt sein Gehirn
bei der Geburt durch einen Behandlungsfehler Sauerstoffmangel, der eine
lebenslange
Behinderung mit dem Namen Zerebralparese zur Folge hatte. So wie
sich der Sohn nun schrittweise durch die Stadt und durchs Leben kämpft,
erzählt der Vater schrittweise in 424 kurzen Abschnitten dessen erste
zehn Lebensjahre.
Der Vater und Autor, Diogo Mainardi, ist ein brasilianischer
Schriftsteller und Journalist, der mit seiner Familie in Venedig lebt,
das ihn durch die Schönheit seiner Architektur verzaubert, aber auch
blendet. Der Gedanke, dass hinter dieser einmaligen historischen Fassade
sein Kind zur Welt kommen soll, erfüllt ihn mit Freude, ohne zu ahnen,
welches Unglück ihn dabei ereilen würde. Und so, könnte man sagen, ist
eigentlich Lombardo, der Architekt
aus dem 15. Jahrhundert, Schuld an dem dort verursachten Leid.
Dieses Gedankenspiel, mit dem Mainardi seine Erinnerungen beginnt,
begleitet ihn und den Leser das ganze Buch hindurch, als eine charmante
philosophische Krücke, die weder Wut noch Selbstmitleid zulässt. Denn
die tatsächliche Schuld an dem Unglück ist eindeutig und wurde
gerichtlicherseits der behandelnden Ärztin und dem Krankenhaus
zugesprochen. Stattdessen bringt uns Mainardi in sachte ausufernden
Assoziationen die Faszination Venedigs nahe, führt uns die einzigartige
Schönheit dieser Stadt vor Augen, um uns im nächsten Augenblick an das
Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten zu erinnern, das auch für
seinen Sohn ein Todesurteil bedeutet hätte. Immer wieder erzählt er von
den Therapiebehandlungen und von Anderen, die ebenfalls unter einer
Zerebralparese litten, wie der irische Schriftsteller Christopher Nolan.
Mainardi ist in diesen "424 Schritten" ein sehr anrührendes Buch
gelungen, das zwar um seinen kleinen Sohn und seine Krankheit kreist,
aber weder Anklageschrift noch medizinischer Report ist, sondern
behutsam und lakonisch zugleich unsere Welt und unser Leben mit seinen
erbarmungslosen Widersprüchen zeigt, die manchmal nicht auszuhalten sind
und die wir doch aushalten müssen und können.
Es ist ein poetisches Selbstgespräch über eine Welt, in der neben der
Schönheit die Grausamkeit wohnt und neben der herrlichen Kostbarkeit der
Fall in den Abgrund lauert.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 02/2016)
Diogo Mainardi: "Der Fall. Erinnerungen
eines Vaters in 424 Schritten"
(Originaltitel "A queda. As memórias de um pai em 424 passos")
Aus dem Portugiesischen von Wanda Jakob.
Zsolnay, 2016. 176 Seiten.
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Diogo Mainardi, geboren 1962 in São Paulo, ist Journalist, Schriftsteller, Drehbuchautor und Produzent. Etliche Jahre hat er in Venedig gelebt, aus Rücksicht auf die schwere körperliche Behinderung seines Sohnes im Anschluss neun Jahre in Rio. Seit 2010 lebt er mit Frau und Kindern wieder in Venedig.